Montag, 10. Februar 2014

Mein Frisöör



Mein Frisöör oder warum ich nicht gerne „fremd“ gehe

Es ist wieder mal so weit, die Haare hängen übers Ohr, der Bart liegt sich schief und, was viel schlimmer ist, er ist über die Oberlippe gewachsen und wird zunehmend zu einer ernst zu nehmenden Behinderung beim Essen. Ich muss dringend wieder einmal zu Wolfgang, meinem Frisör.
Montags hat er geschlossen, nur Hausbesuche oder Altenheim!
So weit ist es ja Gott sei Dank noch nicht.

Dienstags gehen alle, die Samstag zu spät dran waren und Montag nicht konnten, weil ja geschlossen. Mittwoch und Donnerstag gibt es bei mir immer viele Termine und Freitag gehen die Umsichtigen, die Sonnabend zur Goldenen Hochzeit, Schützenball oder sonst einem wichtigen Ereignis müssen. Also Freitag ist ein ganz ungünstiger Tag. Bleibt nur Sonnabend und der ist auch immer ungünstig, genau so ungünstig, wie der Freitag, aus den gleichen Gründen.

Ich könnte natürlich an einem der fünf ungünstigen Tage einfach so hereinspazieren, mich hinsetzen und warten. Das aber ist nicht mein Ding, es gibt so viel Sinnvolleres, als das Wochenblatt zu lesen oder den mehrere Wochen alten Stern, der sich durch tausendfaches Durchblättern kontinuierlich von einer Informations- zu einer Infektionsquelle hin entwickelt hat.

Ich habe auch schon einmal, aber das sage ich jetzt nur ungerne, einen anderen Frisiersalon aufgesucht. Das mach ich aber nicht wieder.
Da treffe ich Kerstin, Wolfgangs Frau beim Einkaufen. Sonst sagt sie immer: „Moin Uwe!“ oder ein knappes „Hallo“. Diesmal guckte sie mich nur etwas länger an, um dann mit etwas vorwurfsvollen Unterton zu sagen:
 „Beim Putzbüdel gewesen?“
„Hhmmm“

Das ist nicht schön -  für uns beide nicht!
Und es ist noch einmal nicht schön. Dann nämlich, wenn der Bart wieder einmal über die Oberlippe gewachsen ist und ich zu Wolfgang rein muss.
Zwei Mal musste ich das schon durchmachen. Da kommst du dann rein in den Salon und wirst mit einem Blick über den Spiegel nur mit der Frage: „Fremd gegangen?“ begrüßt. Willem Hardekopf, dem Fremdgehen anscheinend vertraut ist, grinst mich nichts wissend verschwörerisch durch den Spiegel an.

Schadensbegrenzung, ich hatte mir ja schon etwas ausgedacht.
„Ach nöö, ich hatte nur gerade ´ne Stunde Wartezeit in Frankfurt und da habe ich gedacht, mach das mal eben.“
„Türkenschnitt, seh´ ich doch, obwohl schon fast wech!“

Dann bin ich doch ganz froh, wenn ich statt in Hardekopfs Grinsegesicht gucken zu müssen, den Stern nehmen kann, der hier schon vor 8 Wochen lag und langsam wieder den Hochglanz  hat, den er schon einmal an seinem Erscheinungstag hatte – nur eben etwas anders.

Also, bei Wolfgang braucht man keinen Termin, anders als bei Ilka oder Haarhaus Hagen oder Martina mit der „mobilen Schere“. Deswegen gehe ich ja auch so gerne zu Wolfgang. Einfacher ist das aber trotzdem nicht, liegt aber an mir. Nun habe ich vor Jahren eine fantastische Entdeckung gemacht. Wenn ich zum Einkaufen gehe am Sonnabend, meist so bei elf oder zwölf Uhr, guck ich eben vorher bei Wolfgang rein.
„Moin“
Er dreht sein Gesicht vom Spiegel und Kunden weg, wirft einen etwas längeren Blick auf seine Armbanduhr, obwohl im Salon doch eine viel größere Uhr hängt, und sagt dann:
„Halb eins, is recht?“
Und ob! Das ist Optimum. Der Einkauf ist erledigt, Einkaufskorb ins Auto und dann rein zu Wolfgang. Sein letzter Kunde ist schon raus und er fegt überwiegend graue Haare, die Arbeit der letzten Stunde, unter die Klappe im Fußleistenbereich. Eine feine Zeit zum Haare schneiden.
Obwohl der Fortschritt in mancherlei Hinsicht auch in Kehdingen schon Einzug gehalten hat (Tiefkühlpizza und Internet, nur, um mal zwei Beispiele zu nennen), haben sich einige Bräuche wider jeglichen Einfluss von außen bewahrt. Dazu gehört die angenehme Angewohnheit der Kehdinger, dass sie Punkt zwölf zu Tisch gehen. Nur bei Wolfgang und mir ist das anders. Er fegt nach zwölf und ich geh zu Tisch, wenn es etwas gibt oder wenn ich Lust dazu habe.

Ich werde freundlich auf den Frisiersessel gebeten, den Nylonkittel schon in der Hand unterbricht Wolfgang die Bewegung, mit der er gewöhnlich das Nylon über den Kunden drapiert.
„Is recht, wenn ich eben einen Happen essen gehe?“
„Ja,ja, geh man“, sage ich dann immer. Ich weiß ja, dass er sich nicht lange mit der Esserei abgibt.
„Kerstin hat noch Grünkohl von gestern“, sagt er mit einer halben Rückwärtsdrehung, als er mit eingezogenem Kopf durch die windschiefe Tür in die Hinterzimmer des Altbaus verschwindet. Kerstins Grünkohl nutzt den kurzen Moment der geöffneten Tür, um sich bei mir vorzustellen.
 „Sie kocht nicht schlecht“, meinte Wolfgang mal bei anderer Gelegenheit. Dem Geruch nach zu urteilen hat er Recht.

Ich höre Geschirr klappern, es sind noch keine fünf Minuten verstrichen, und mein Frisör ist zurück. Während er mir den hellblauen Nylonkittel überschmeißt geht er noch einmal mit der Zunge über die Zähne und seufzt  tief auf beim Gedanken an den Grünkohl.

Das harte Krepppapier an meinem Hals kratzt und es kommt, was immer kommt:
„Wie immer?“
 „Wie immer!“
„Nicht so kurz?“
„Nicht so kurz.“
„Ohren frei?“
„Ohren frei.“
„Bart auch?“
„Bart auch.“
„Ein Drittel?“
„Ein Drittel.“

Das war am Anfang einmal anders. Aber als ich feststellte, dass Wolfgang ein ganz anderes Verständnis von Bruchrechnung hatte als ich und bei zwei Drittel nur noch kurze Stoppeln das Gesicht bedeckten, haben wir uns auf ein Drittel geeinigt. Nun stimmt alles: Ich sage ein Drittel, Wolfgang schneidet zwei Drittel und am Ende bleibt ein Drittel stehen. Alles so, wie ich es haben will!
Bruchrechnung nach Kehdinger Regeln.

Bartschneiden ist der langweiligste Part bei Wolfgang -  kannst nicht reden dabei.
Die harten Stoppeln springen von der Schere weg und landen willkürlich auf den geschlossenen Augenlidern oder den Lippen. Wenn Wolfgang dann zur Maschine greift nutze ich die Gelegenheit blitzschnell eine Hand vom Nylon zu befreien, um mir schnell die Stoppeln aus der Augenhöhle und vom Mund zu wischen. Meistens merkt er es.
„Lass mal, mach ich mit dem Pinsel.“
Genau das wollte ich doch vermeiden. An den Augen lass ich es mir ja noch gefallen. Wenn er dann aber mit den Schweineborsten über meine Lippen geht, kneife ich sie, bei dem Gedanken, wessen Lippen dieser stummelige Pinsel schon alles in seinem langen Dasein abgefegt hat, fest zusammen. Das Ergebnis ist, dass ich später gleich vor der Ladentür Stoppeln ausspucke und mit dem Handrücken über die Lippen gehe.

Ein schöner Moment dann, wenn Wolfgang den Stuhl senkrecht stellt und mit einem Lob einfordernden Blick in den Spiegel fragt: „Gut so?“
Na klar ist das gut und auch die Nachfrage „Nicht zu kurz?“ beantworte ich ihm, wie er es hören will.
Spätestens jetzt beginnt die Phase, warum ich fast nie „fremd“  gehe, wie Wolfgang immer meint. Es beginnt der Moment des Gebens und Nehmens. Gibt es so nicht beim Türken oder irgendeinem anderen Frisör, den man mal so nebenbei besucht.

Meistens eröffnet Wolfgang die heiße Phase auf dem Stuhl.
„Was ist denn dran an dem Gerücht?“
„Welches Gerücht?“
„Dass die Straßenbaufirma, die die Hauptstraße pflastert, insolvent ist.“
„Hör ich heut zum zweiten Mal, hat Bruno mich auch schon gefragt und der hat es in Hansis Keller gehört, soll einer von den Straßenbauern Hans Ahlers erzählt haben.“
„Wär´ja Schiet so kurz vor Ende der Arbeiten.“
„Jo.“
Mehr fällt mir dazu dann auch nicht ein.
„Mariechen Hase ist gestorben.“
„Hab´ ich auch gehört.“
„Is ja ´n Segen.“
„So gesehen, ja.“
Noch nicht ganz zu Ende gesprochen, denke ich, was für einen Mist redest du denn da eigentlich?
Aber Wolfgang genügt das.

Themenwechsel
„Augenbrauen auch?“
„Augenbrauen auch.“
„Sehen aus wie bei Breschnew.“
„Ja, oder wie bei Waigel.“
„Ja, der hätte auch mal kommen können.“
Das wär´s  gewesen, Breschnew oder Waigel bei Wolfgang in Freiburg. Wenn er es dann nicht schon gewusst hätte, hätte ich ihm eine schöne Geschichte zu erzählen gehabt!

Wie  zuvor schon angedeutet ist ein harmonisches Verhältnis vom Kunden zu seinem Frisör – und bei Wolfgang allemal – von geben und nehmen bestimmt. Nach dem Einsatz von Wolfgang – Straßenbau und Mariechen Hase – musste ich nun liefern.
„Stimmt es, dass im Spieker Firma Mählert den Auftrag bekommen hat, obwohl sie das zweithöchste Angebot abgegeben haben?“
Während ich ihm erkläre wie der Sachverhalt ist kommt die schon seit längerem erwartete Frage „Nase auch?“
Obwohl ich eigentlich jedes Mal sagen möchte: „Nein, heute nicht“, ist er schneller. Seine Schere kitzelt in meinen Nasenlöchern und ich denke:
 „Schere, wie viele Nasenlöcher musstest du dir schon von innen ansehen?“

Der Haarschnitt nimmt langsam Gestalt an.
„Dein Schwager war schon lange nicht mehr bei mir.“
Was soll ich sagen?
„Hmm“.
„Hab´ ich irgendetwas falsch gemacht?“
„Nee, kann ich mir nicht denken, passt eben nicht immer so, wenn die von Hamburg hier sind.“
„Bin ich ja beruhigt, dachte schon.“

„Ohren auch?“
Auch darauf hatte ich schon gewartet. Gegen „Ohren“ hab´ ich nichts, und wenn ja, hätt´s  wohl auch nichts genützt bei dem Tempo mit dem Wolfgangs Schere Fakten schafft, bevor ich antworten kann.
Das Ritual nähert sich dem Ende mit dem Kommentar, was für schönes volles Haar ich noch hätte und ob es etwas Gel oder Haarspray sein darf.
„Nö, Wolfgang, heute nicht.“
Einmal mit dem Handspiegel rund um den Kopf.
„Gut so, nicht zu kurz?“
Auf dem Weg zur Kasse.
„Eine Frage, musst nicht antworten, musst du heute noch irgendwo hin?“
„Ja.“
Pause!
Immer der gleiche Gag!
„Nun sag schon, was hast du heute noch vor? ´Was Besonderes?“

Ist das dann auch geklärt jammern wir uns noch kurz etwas vor, dass der Haarschnitt so teuer geworden sei und die Betriebskosten schon wieder gestiegen sind und so billig, wie der Türke in Frankfurt könne er hier nicht arbeiten.
Wenn  dann auch noch 50 Cent Trinkgeld in der stiefelförmigen Spardose für das Personal versenkt sind und ich mich aus der Kinderdose mit einem oder zwei Harribo Lakritz bedient habe,  bin ich durch für die nächsten vier Wochen.

Zu Hause brauche ich nicht auf ein Lob zu warten, wie etwa „Gut siehst du aus!“
Wenn´s hoch kommt sagt Ulla: „Typischer Wolfgangschnitt mal wieder!“ und geht zum Tagesgeschäft über.

„Na und“, denke ich dann, „bist du schon einmal von deinem Frisör zurückgekommen und hast gedacht: Das war doch wieder nett heute?“
Schön, dass ich meinen Frisör noch im Dorf habe auch, wenn es manchmal an Stellen kitzelt, wo der Frisör eigentlich besser weg bleiben sollte.

P.S.:
Mein Freund Jan, erst seit wenigen Jahren Kehdinger, hat auch schon einige Geschichten mit Freiburger Frisierstuben erlebt. Nur bei Wolfgang war er noch nie, wie er mir unlängst anvertraute. Umso mehr war er an einer Beschreibung des Frisörs meines Vertrauens interessiert.
Als ich bei der Schere im Nasenloch angekommen war, schien sein Interesse schlagartig erloschen.
Er werde wohl nicht zu Wolfgang gehen, sagte Jan.
Ich weiß gar nicht warum, aber so ist das manchmal mit den Zugereisten.

Und nun zu guter Letzt noch eine Richtigstellung von meinem Schwager Horst, die wiederzugeben ich mich verpflichtet fühle:

„Richtig an Wolfgangs Beobachtung ist, dass ich jetzt seit Jahren ebenfalls nicht mehr "fremd-", sondern zu "meinem" türkischen SPD-Abgeordneten in der Bezirksversammlung Altona, Becet Algan, gehe, dessen Frisierstube ein sehr schlichter, aber viel frequentierter Treffpunkt türkisch stämmiger Ottensener ist. An den Wänden kann man - bei einem Gläschen türkischen Tees - Photos bewundern, die Becet neben allerlei SPD-Prominenz zeigen...“




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