Dienstag, 4. Februar 2014

Neues aus der Anstalt 6



Roseneck Klinik Februar 2011

Ein extraterrestrisches Wesen schickt seinen Wochenbericht an einen Stern in weit entfernten, den Menschen unbekannten Galaxien.

Am 24. Februar 2011 nach Rechnung der Erdbewohner bin ich nahe meines Einsatzortes inmitten einer größeren Wasserfläche, sie sagen Chiemsee zu dieser Wasserfläche, auf einem Erdfleck mit großem Haus gelandet. Nach den Koordinaten musste mein Einsatzort die Ansammlung von Lichtern hinter der Wasserfläche sein. Meine Klonung ist noch ein wenig fehlerhaft aber mit dem Korrekturprogramm gelingt die Annäherung an die Menschen immer mehr. Ich habe nach einem Rundgang bemerkt, dass mein Landepunkt auf einer Insel liegt. Erst am nächsten Morgen konnte ich mit einem Wasserüberwinder (sie sagen Schiff, Ausflugsdampfer und Boot dazu, sie scheinen sich noch nicht ganz auf einen Begriff fest gelegt zu haben) nach Prien, meinem Einsatzort übersetzen.
Dank der guten Vorarbeiten fand ich schnell zur Roseneck Klinik. Wir hatten Recht, es handelt sich um einen Bau so ähnlich wie bei uns die Waben der Arbeitsdrohnen. Viele Kammern und in jeder Kammer leben 1-2 Menschen.
Aber nun der Reihe nach.
Draußen vor der Tür standen Menschen mit Rauchteilen in der Hand. Soweit ich sehen konnte Vertreter beider Geschlechter. Einigen war sehr kalt. Übrigens die weiße Farbe, die wir auf den Bildern gesehen haben, ist wirklich gefrorenes Wasser, wie unsere Abt. Ferne Planeten vermutet hatte. In der Eingangshalle viel Bewegung. Viele Menschen liefen ohne sichtbaren Plan auf und ab. Viele trugen Wasserflaschen, Papiere oder Schlüssel in den Händen.
Als ich mit meinem Koffer in der Halle stand, kam eine, ich vermute weibliche Person, in grauem Anzug auf mich zu und meinte, ich müsse an den Tresen mit Schiebefenster. Hier wurde ich registriert. Gute Arbeit von unseren Leuten. Ich war dort bereits wie geplant in den Listen unter Tinnitus eingetragen. Ich musste einige Fragebögen ausfüllen und man machte mich auf Regeln aufmerksam, die unseren Diensten bis dahin unbekannt waren.
Falls Ersatz kommt, ihr findet mich unter Nummer 137, Station A5. Dieser Code kennzeichnet die einzelnen Wohnwaben, sie sagen auch „Zimmer“ dazu. Ich werde diesen Fachterminus zukünftig auch gebrauchen.
Auf dem Zentralerschließungsflur meines Wabengeschosses (Flur oder Station) gibt es eine Sitzecke, sie sagen Kanzel dazu. Die Kanzel ist von kleinen Zellen umgeben in die pausenlos Menschen in weißen Kitteln verschwinden und geschäftig wieder herauseilen. Ich kann kein System erkennen. Aus einer Glaszelle heraus beobachten mehrere Weißkittel die Menschen in der Kanzel. Weißkittel haben hier eine ganz besondere Rolle. Ich habe keinen. Warum nicht weiß ich auch nicht. Weißkittel sagen immer, was man machen muss. Weißkittel und Weißkittel ist aber nicht das gleiche. Es gibt Weißkittel und Weißkittel, die mehr zu sagen haben. Männer und Frauen stecken in den Kitteln, nach meinem Eindruck gibt es mehr Frauen in Weißkitteln. In den Zellen der Weißkittel müssen sich außerordentliche Werte befinden. Kaum, dass sie den Raum verlassen, schließen sie ab. Dabei verursachen sie starke Geräusche und gucken immer um sich, als fürchteten sie, nicht bemerkt zu werden.
Während ich mich über meinen Flur bewegte kamen mir ständig Menschen entgegen, die mir die Hand gaben und vermutlich ihren Namenscode nannten. Ich habe dann auch von meinem Namen Gebrauch gemacht, ihn immer wieder rausgeschleudert bevor mir die nächste Hand entgegengestreckt wurde. Sie hießen Rolf, Astrid, Hubert, Richard, Walter, Bernie, Torsten, Nadja, Tina, Uschi, Veronika, Steffi, Peter, Corinna, Stefan, Paul, Sibylle, Ariane, Amelie, …
Ein Weißkittel, unterer Dienstgrad, ich sollte ihn Schulze, Herrn Schulze nennen, führte mich zu meiner Wabenzelle und ließ mich dort mit meinem Koffer allein. Kommen Sie bitte in 30 Minuten ins Büro. Er meinte die Glaszelle an der Kanzel. Meine Schlafwabe, pardon, mein Zimmer, war im Grundsatz so, wie ich es im Vorbereitungsmodell kennen gelernt hatte. Schlaffläche, Sitzgestell, Ablageplatte und die große Kleiderkiste. In einer Ecke befinden sich abgetrennt die Reinigungseinrichtung und das Becken für die Körperflüssigkeiten und Exkremente, die wir so nicht haben. Ich habe das Becken ausprobiert. Sitzt sich nicht besonders gut.
Dreißig Minuten vergangen. Ich verschließe mein Zimmer. Die Temperaturen sind erheblich höher als mir vor der Reise mitgeteilt wurde, besonders im Flur. Bis zum Glasbüro sind es nur wenige Schritte. Kommen Sie herein Herr Petersen. Wieder Fragen und Papiere und noch ein Foto, damit, so Herr Schulze, damit alle Weißkittel wissen, wer neu ist auf der Station. Hier bleibt man nämlich nur unbestimmte Zeit. Ich habe noch nicht herausgefunden, wie lange hier die Verweildauer ist. Ich habe inzwischen schon von völlig unterschiedlichen Zeiten gehört. Die Weißkittel haben damit zu tun. Anschließend musste ich in das Weißkittelzimmer neben dem Glasbüro. Eine junge Frau unterhielt sich mit mir und fragte nach meinem Befinden. Sie gehörte sicherlich zu den höherrangigen Weißkitteln. Ich musste meine Tabletten abgeben und bekam einen kleinen Becher und ein Blatt Papier. Am nächsten Tag sollte ich mich in einem Zimmer melden und Körperflüssigkeiten abgeben.
Es war nicht so einfach mit der Körperflüssigkeit. Ist es schon ganz schön schwer allein das kleine Gefäß zu treffen, gibt es noch weitere, verschärfte Auflagen. Nüchtern! Kein Alkohol und keine Mahlzeiten ab 22 Uhr am Vorabend. Soweit noch ganz leicht. Aber nun kommt´s:
„Wir benötigen von Ihnen eine Probe aus dem sogenannten Mittelstrahl. Dazu bitte vor dem morgendlichen Wasserlassen Hände und Genitalbereich mit Wasser und Seife gründlich reinigen. Erst etwas Urin in die Toilette  entleeren, dann einen Teil des Urins in dem beigefügten Becher auffangen, den Rest [möglichst] wiederum in die Toilette entleeren.“

MZ: Hier standen schon mehrere Männer und Frauen. Sie trugen alle gleichgroße Plastikpötte mit grünem Deckel und der gelben Körperflüssigkeit. Nach einiger Zeit konnte ich das Gefäß loswerden und musste in einen Raum, in dem drei Personen gleichzeitig rote Körperflüssigkeit (Blut) aus der Armbeuge abgezapft wurde. Obwohl ich in den letzten Wochen schon gut vorbereitet worden war, fiel es mir nicht leicht. Zwei junge Frauen tauschten sich über ihre Unerfahrenheit im Blutzapfen aus. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass sie gerade am Anfang ihrer beruflichen Karriere standen und erst seit zwei Tage im Zapfteam arbeiten.

In einigen Zimmern müssen zwei Patienten (Irdische) leben. Sie scheinen dazu zu neigen, die Zellenzuweisung und –belegung abzulehnen. In einer Hausinformation steht dazu:
„In letzter Zeit ist es immer wieder vorgekommen, dass Patienten ein Doppelzimmer durch Anbringen zusätzlicher Vorhänge, Bettlaken, Styroporplatten, Holzbretter oder Verändern des Mobiliars etc. in ein Einzelzimmer umgewandelt haben.“

Dies ist nicht zulässig!!!

Es folgt die Drohung, dass die Mitarbeiter der Haustechnik in den nächsten Tagen wieder entsprechende Kontrollen der Patientenzimmer vornehmen und alle eigenmächtig angebrachten Raumteiler in den Doppelzimmern entfernen.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an den Bezugstherapeuten! Ich werde Frau Gietl fragen, ob man eine Einraumzelle in ein Zweiraumappartement verwandeln darf. Zum Beispiel in einen Schlafraum und Wohnzimmer.

Weißkittel
Die große Schar der Weißkittel lässt sich nach näherer Untersuchung in mehrere Klassen einteilen. Ganz unten in der Hierarchie stehen die Frauen mit den blauen Streifen im Kittel. Sie reinigen die Flure und Zellen. Etwas höher scheinen die Weißkittel bei der Speiseausgabe und Speisezubereitung zu stehen. Im Wellnessbereich finden wir die nächsthöheren Kittelträger. Auf der Station, in den Glaskästen, findet man Weißkittel, die rangniedriger sind und immer sagen: „Besprechen Sie das mit dem Arzt oder ihrer Bezugstherapeutin.“ Sie trauen sich nicht, selbständig Entscheidungen zu treffen. Einer, von außen nicht von den übrigen Weißkitteln zu unterscheiden, sagt immer: „Ich bin nur der Praktikant.“
Die nächsthöhere Weißkittelstufe umfasst Ärzte und Therapeuten, meist Psychologen. Hier konnte ich noch nicht heraus bekommen, welche Kaste über der anderen steht. Vielleicht haben sie die gleiche Rangstufe. Auffallend ist nur, wenn sie mit der höchsten Rangstufe zusammenkommen, eilen sie voraus und reißen die Tür auf und sprechen von dem Professor. Der Herr Professor ist ein freundlicher, älterer Mensch, der dazu neigt, bei geöffnetem Kittel Fröhlichkeit zu verbreiten. Manchmal, wenn man zur höherstehenden Patientenkaste gehört, darf man zu ihm, 15 Minuten! Dann muss immer einer der niederen Kittelträger, Arzt oder Therapeut anwesend sein. Die werden dann immer etwas kleiner als bei anderen Begegnungen. Der Professor möchte immer die T-Patienten in einen Bund, den er Tinnitusliga nennt, aufnehmen. Bei mir hat er es auch versucht. Ich bitte um Anweisung, was ich machen soll.
Ein paar weitere Beobachtungen. Bei Weißkitteln kann man schon aus weiter Ferne erkennen, ob sie entgegen kommen oder sich entfernen. Sie tragen die Kittel grundsätzlich geöffnet. Sieht man also einen durchgehend weißen Körper, entfernt er sich. Entwarnung! Ist eine „normale“ Menschengestalt weiß gerahmt, kommt sie entgegen. Begegnungen sind nicht immer unproblematisch. Weißkittel bewegen sich in der Regel sehr schnell. Ich glaube, dass sie die Anweisung haben, dass die Kittelenden möglichst weit nach hinten herausstehen müssen. Und das erreichen sie durch Geschwindigkeit, hohe Geschwindigkeit. Besonders eng wird’s dann im wahrsten Sinne des Wortes, wenn einem mehrere Weißkittel begegnen. Sie neigen zu Rudelverhalten. Es ist nicht immer nachvollziehbar, nach welchem System sich das Rudel bei Gangverzweigungen vergrößert oder verkleinert. Fakt ist jedoch, dass sie meist die gesamte Gangbreite einnehmen. Kommt einem eine solche Gruppe entgegen, sprechen sie hier auch von der weißen Welle.
Das Verhalten im Rudel ist höchst unterschiedlich. Einige bewahren ihre sonst übliche Freundlichkeit und nehmen die Patienten trotz des Eilschrittes wahr. Andere scheinen sämtliche Erinnerung an ihre Patienten verloren zu haben.
Über den Tag verteilen sich die Patienten auf viele Räume und arbeiten dort zu unterschiedlichen Themen. Ich werde später darüber berichten. Auffallend ist, dass Weißkittel in diesen Räumen das Sagen haben. Manchmal sitzen sie dort im Raum und warten auf die Patienten, die völlig selbständig die richtigen Gruppenzellen finden. Das verläuft alles sehr systematisch, nach raffinierten Plänen, die von den Patienten unbedingt eingehalten werden müssen, weil sonst das System wahrscheinlich zusammenbrechen würde. Oft kommen die Weißkittel auch erst später, wenn alle Patienten im Raum sind. Selten kommt kein Weißkittel. Wahrscheinlich ist das auch beabsichtigt und die Patienten werden über verborgene Kameras beobachtet, wie sie mit dieser Situation fertig werden.
Auffallend ist jedoch bei allen beschriebenen Fällen, dass die Weißkittel, kaum dass sie im Raum sind, erst einmal ihren Kittel ausziehen. Ich vermute, dass sie damit den Eindruck erwecken wollen, als seien sie nichts Anderes als alle anderen im Raum. Vorsicht! Dieser Eindruck ist falsch!! Sie behalten das Kommando trotz äußerer Gleichmacherei. Das wird spätestens deutlich, wenn sie wieder in bekanntes Kommandoverhalten verfallen oder zum Ende der Veranstaltung „Hausaufgaben“ erteilen.
Hausaufgaben scheint ein Disziplinierungsmittel zu sein. Ich muss der Sache noch nachgehen. Es scheint kein System zu geben. Sie kommen wahllos, unberechenbar. Mal ja, mal nein!
Und dann das Blitzlicht!! Jeder in der Runde äußert sich über sein momentanes Befinden. Merke! Weißkittel ohne Kittel outen sich, weil sie die einzigen sind, die sich im „Blitzlicht“ nicht äußern.

1 Kommentar:

  1. Wunderbar!!! Ernest Hemmingway, Thomas Wolfe und Ludwig Ganghofer in einer Person!! Jörg, bitte, bitte mehr davon!!

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