Dienstag, 26. August 2014

Kackmanns Tannenbaum



                    
Kackmann gehört zu jenen Menschen, die immer alles besser wissen, alles besser können, die für jedes Problem eine Lösung wissen und dann, wenn sich die Dinge weiter entwickelt haben, selten mit ihrer Auffassung im Recht bleiben.
Unangenehm ist er eigentlich nicht – eher etwas anstrengend für seine Mitmenschen und, wenn man sich an seine Art gewöhnt hat, kann es sogar unterhaltsam mit ihm sein.

Vielleicht 14 Tage vor dem Weihnachtsfest unterhielten sich Kackmanns beiden Kollegen über den bevorstehenden Weihnachtsbaumkauf auf dem Stader Weihnachtsbaummarkt. Private Gespräche waren keine Seltenheit in diesem Büro und kennzeichneten das gute Klima zwischen den drei Angestellten.
Kackmann wäre nicht Kackmann, hätte er sich nicht nach kurzer Zeit in das Gespräch über Größe, Preise und Qualität der Weihnachtsbäume eingeschaltet.
„Versteh´ gar nicht, warum ihr euch keinen Baum aus dem Wald holt, frischer und billiger geht es doch wirklich nicht.“
Kackmann hatte bisher in jedem Jahr seinen Baum vom Stader Markt geholt. In diesem Jahr hatte er einen Zeitungsartikel über das Selberschlagen von Weihnachtsbäumen im Tageblatt gelesen.
„Steigert doch die weihnachtliche Vorfreude für die ganze Familie, so ein Waldausflug. Ist auch viel billiger und der Baum nadelt nicht schon am Heiligen Abend“, gab er sein gerade erworbenes Zeitungswissen weiter.
Sie ließen ihn reden, um ihm am Ende seiner Ausführungen zu sagen, dass sie ihren Baum auch in diesem Jahr wieder auf dem Stader Tannenbaummarkt kaufen würden.
„Groß wird er sein in diesem Jahr, frisch und nach Wald duften. Silvester wird er noch seine Nadeln haben! Ich lade euch mit euren Familien ein zum Weihnachtskaffee am 2. Weihnachtsfeiertag. Dann könnt ihr eure Mickerpalmen mit meinem Baum vergleichen! Ich möchte wetten, dass wir im nächsten Jahr gemeinsam in den Wald fahren werden!“

Zu Hause am Abendbrotstisch platzt Vater Kackmann schon mit der Neuigkeit heraus, bevor noch alle an ihrem Platz saßen. Almut Kackmann, die heute manchmal lieber ihren Mädchennamen Meier zurück gehabt hätte, der 12jährige Sohn Maik, den der Vater nach dem Vorbild amerikanischer Spielfilme meistens „Junior“ nannte, die 10jährige Jennifer und der kleine 5jährige Sebastian nahmen Kackmanns Ankündigung sehr unterschiedlich auf.

„Muss ich auch mit?“
Mutter Almut mit ihrer Vorliebe für Versandhausmode hoffte noch auf Befreiung von der Weihnachtsbaumaktion.
Im Gegensatz zu ihr waren die Kinder gleich Feuer und Flamme für Vater Kackmanns Vorschlag.
„Denk´ nur, was für ein schönes Familienerlebnis es wird und anschließend, wenn wir unseren Baum haben, kehren wir noch irgendwo in der Wingst zum Kaffeetrinken ein“, schwärmte der Familienvater.
Mit „dem schönen Familienerlebnis“ schnitt Vater Kackmann seiner Frau Almut den zaghaften Rückzug aus der Tannenbaumaktion so gut wie ab.

Wochenende

Erwin Kackmanns Fröhlichkeit – zugegeben etwas aufgesetzt – wirkte nur auf seine Kinder ansteckend. Ehefrau Almut hatte sich in Anbetracht des in Aussicht gestellten Kaffeetrinkens mit dem neuen Kleidervorschlag von der Katalogseite 314 angezogen: Kostüm in Herbstfarben, gelbockerfarbene Strümpfe, die halben Schuhe mit den nicht ganz langen Absätzen und dem Wintermantel vom Vorjahr.
Kackmann selber hat sich auf das Ereignis vorbereitet wie ein Buschläufer. Eine Armeehose in Tarnfarbe – schon vor Jahren aus Heeresrestbeständen erworben – olivfarbene Gummistiefel, Daunenweste unter der Bundeswehrparka und, etwas unpassend dazu, der karierte Hut, den er auch immer zum Dienst trägt. Ein Hut ähnlich dem, den der Altkanzler Adenauer immer trug, wenn er Boccia spielte.
Junior, Jenni und Sebastian saßen erwartungsvoll mit ihren Gummistiefeln im Fond des zweijährigen Japaners.
Mit Axt, Säge und Seil im Kofferraum verließ die Familie am frühen Nachmittag ihr Dorf in Richtung Naherholungsgebiet Wingst, das sich schon bald mit seinen dunklen Waldhügeln am Ende der Elbmarsch vor dem hellen Winterhimmel abzeichnete. Kackmann trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, pfiff dabei immer ein und dieselbe Melodie irgendwelcher bayrischer Stimmungsmacher, die sich bei seinem letzten Stadeumsbesuch in seinem Kopf festgesetzt hatte. Er war zufrieden. Kackmann war meistens zufrieden – daran konnten auch seine häufigen Niederlagen nichts ändern.
„Kinder, dieser Tag wird euch in Erinnerung bleiben“, sprach er in den Rückspiegel blickend. Dabei ahnte er noch nicht, wie Recht er behalten sollte.

Mitten im Hochwald setzte Kackmann den Blinker und bog nach rechts in einen Waldweg. Vor einem Sperrbalken führte eine Fahrspur im spitzen Winkel durch die hohen Fichten. Am Anfang dieser Spur stoppte er den Wagen, stellte den Motor aus, atmete tief durch und sagte genießerisch: „Oh diese Ruhe! Herrlich!“
Die Wagentüren öffneten sich, ein Schrei durchbrach die Waldesstille! Almut Kackmann zog ihren Fuß zurück ins Wageninnere – schwarz bis knapp über den Knöchel. Ohnehin nicht in bester Laune hatte sie die tiefe Wagenspur neben der Beifahrertür übersehen.
Vielleicht war dieses Missgeschick – so unangenehm sich der schlammüberzogene Fuß auch anfühlte – gar nicht so verkehrt: Hatte sie nun doch einen Grund, im Auto sitzen zu bleiben.

Ohne Mutter Kackmann bewegte sich die Familie ausgestattet mit Axt und Säge durch den Hochwald zu der dahinter liegenden Fichtenschonung. Bald schon war der Weihnachtsbaum gefunden. Junior hielt die unteren Zweige hoch, der Vater sägte und die Kleinen schauten zu. Gute drei Meter neigten sich zur Seite. Als der Baum fiel, ließ Junior die Zweige los. Einer wischte Kackmann durchs Gesicht. Mit den leuchtendrot aufblühenden Schrammen im Gesicht entfuhr ihm ein Fluch, den er normalerweise vor den Kindern unterdrückt hätte. Der schmutzige Handschuh fuhr reflexartig über das Gesicht, um den aufkommenden Schmerz zu lindern und hinterließ dabei schwarze, harzige Flecken auf dem Gesicht. Während der Schmerz noch nicht nachgelassen hatte, johlten die Kinder vor Vergnügen, weil ihr Vater mit diesem Gesicht so lustig aussah.
Kackmann unterdrückte seinen Groll. Erste, heimliche Zweifel beschlichen ihn, ob die Entscheidung, selbst einen Weihnachtsbaum zu schlagen, richtig gewesen war.
Kaum, dass der Schmerz sich verzogen hatte, musste Kackmann feststellen, dass er diesen Baum unmöglich mitnehmen konnte. An den Zweigen, die zum Nachbarbaum gezeigt hatten, waren fast alle Nadeln abgescheuert. Der Baum blieb liegen und ein zweiter Baum, diesmal sorgfältiger untersucht, fand das Gefallen der Familie und wurde gefällt. Das dicke Ende tragend bahnte sich Kackmann gefolgt von Junior in knapp drei Meter Entfernung, der das dünne Ende in der Hand hielt, einen Weg durch die Schonung. Jenni und Sebastian halfen sich gegenseitig durch die zurückschnellenden Zweige. Ihnen waren Axt und Säge anvertraut.

„So, nun haben wir es gleich geschafft“, meinte Kackmann zu seinen Kindern, als sie den Waldweg erreicht hatten. Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als sich eine Gestalt mit Dackel aus dem Dunkel des Hochwaldes löste, unschwer als Förster zu erkennen.
„Guten Tag! Wo haben Sie denn den Baum her, bitte schön?“
Kackmann, sichtlich verlegen, versuchte dem Forstmann zu erklären, dass er den Baum abgesägt neben der Schonung gefunden habe.
„So, so, und Axt und Säge rein zufällig dabei gehabt“, fragte er in einem Ton, der zweifelsfrei erkennen ließ, dass alles Lügen zwecklos sei.
Da mischte sich der kleine Sebastian ein und meinte: „Mein Papi hat doch ein bisschen Recht. Ein Baum liegt da noch! Den haben wir zuerst abgesägt aber der taugte nichts.“
Kackmann wollte es nicht glauben! Sein eigen Fleisch und Blut brachte ihn in noch größere Verlegenheit als er ohnehin schon war.
„Dann haben Sie also zwei Bäume geschnitten. Sie müssen doch gewusst haben, dass man nicht einfach so in den Wald gehen darf, um sich einen Tannenbaum zu besorgen. Wären Sie gleich auf das Forstamt gekommen, hätte ich Ihnen eine Schonung angewiesen. Von einer Anzeige wegen Diebstahls will ich einmal absehen, weil Weihnachten vor der Tür steht. Bezahlen müssen Sie schon, zehn Euro nehmen wir jetzt für den Meter.“
Er zückte einen Quittungsblock aus seiner ledernen Umhängetasche und begann eine Quittung auszustellen.
Kackmann war, entgegen seiner Art, ganz still geworden. Er kramte in seinem Portemonnaie und hielt dem Forstmann schon 30 Euro entgegen.
Als der mit der Schreiberei fertig war, nahm er die Geldscheine, rieb sie zwischen seinen Fingern und sah Kackmann fragend an.
„Stimmt etwas nicht?“ fragte Vater Kackmann.
„Was ist mit dem anderen Baum, von dem Ihr Sohn sprach? Der gehört Ihnen jetzt auch. Ich nehme an, dass er auch um die drei Meter lang ist und habe deshalb die Quittung auf 60 Euro ausgestellt.“
Wortlos griff Kackmann erneut zur Geldbörse, zückte einen Fünfziger und erhielt zwanzig von seinen bereits gezahlten dreißig Euros zurück. Dazu eine Quittung unterschrieben mit H. von Wensow.
Der Förster tippte mit der Fingerspitze an seinen Hut, zog seinen Hund, der gerade an den Weihnachtsbaum pinkelte, zu sich heran und verabschiedete sich mit den Worten: „Frohes Fest wünsche ich dann noch und im nächsten Jahr kommen Sie dann aber bitte gleich zu mir, ja?“
Die Amtsperson war erst wenige Schritte entfernt, als Jenni flüsternd fragte, ob der Papi denn nun geklaut habe?
Kackmann, der es nicht gewohnt war, Niederlagen kampflos hinzunehmen, arbeitet fieberhaft daran, den Diebesmakel loszuwerden.
„Eigentlich“, begann er, „eigentlich gehörte uns der Baum schon, bevor ich ihn bezahlt hatte. Wisst ihr, was der Förster gemacht hat, war nicht ganz richtig. Dieser Wald ist ein Staatsforst, der allen gehört, auch mir. Ich habe mir nur meinen kleinen Teil herausgeholt, der mir ohnehin schon gehörte.“
„Warum hast du dann noch für die Bäume bezahlt?“ fragte Junior seinen Vater.
Kackmann war auch hier nicht um die passende Antwort verlegen.
„Förster sind nur kleine Beamte, die nicht viel verdienen und immer auf unseren Wald aufpassen müssen. Da habe ich mir gedacht, jetzt zu Weihnachten kann er vielleicht gut ein paar Euros gebrauchen, um seinen Kindern und seiner Frau Weihnachtsgeschenke kaufen zu können.“
„Und für seinen Dackel“, ergänzte der kleine Basti, „der an unseren Weihnachtsbaum gepinkelt hat.“
„Ja, für den auch“, versuchte Kackmann das Gespräch zu beenden. Schon fast am Auto angekommen, spürte er die Quittung in seiner freien Hand. Zorn stieg in ihm auf und er schleuderte das zusammengeknüllte Papier zwischen die Fichtenstämme neben dem Weg.
„Du hast eben Papier verloren, Papi!“ rief Jenni. „Das ist Umweltverschmutzung!“
„Ist es nicht!“ knurrte Kackmann. „Papier ist aus Holz, der Wald auch – passt also gut zusammen!“
Die letzten Meter bis zum Auto wurden wortlos zurückgelegt.  
Schräg, mit dem dicken Ende zuerst, drückten Kackmann und Junior den Baum in die Ecke des japanischen Kofferraumes. Weihnachtsmusik drang aus dem beschlagenen Innenraum des Autos. Almut Kackmann hatte sich mit notdürftig gereinigtem Fuß mit dem Autoradio getröstet, nachdem die beschlagenen Scheiben ihr den Ausblick in das Tannengrün genommen hatten.

Kaum, dass der Baum verschnürt war, schwang Kackmann sich hinter das Steuer seines Wagens, startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Der Motor heulte auf aber das Auto bewegte sich trotz drehender Antriebsräder nicht vom Fleck.
Junior und Mutter sollten etwas schieben, vorne, an den Scheinwerfern. „Viel fehlt nicht!“ rief Kackmann durch das Seitenfenster mit der heruntergedrehten Scheibe, „etwas ruckeln!“
Tatsächlich bewegte sich das Auto etwas zurück, um dann jedoch erneut festzusitzen.
„Noch einmal nach vorne!“ schallte das Kommando des Familienvaters durch den Wald.
Almut Kackmann stelzte wie ein Storch über Pfützen und Tannenzweige, packte das Rücklicht und stemmte sich mit ihren ganzen 58 Kilogramm gegen den festsitzenden Japaner.
Der Motor heulte auf – Frau Kackmann auch! Das konnte ihr Ehemann aber durch das Geräusch des Motors und der durchdrehenden Reifen nicht hören.
Kackmann ging vom Gas. Weder Motor noch Reifen heulten; aber durch die Stille des Waldes hörte Kackmann nun das Heulen seiner Frau. Sie saß auf einer Fichtenwurzel, die Hände vor dem Gesicht und von oben bis unten zog sich über den Versandhauschic ein autoreifenbreiter, schwarzer Dreckstreifen. Selbst auf der Brille saß ein Placken Walderde, der langsam abzurutschen begann.

Basti heulte auch, Jenni schwieg und Junior suchte Tannenzweige, um sie vor die Antriebsräder zu legen. Kackmann versuchte seine Frau notdürftig zu reinigen. Er zog ihr den Mantel aus und setzte sie – nun schon erheblich sauberer und nicht mehr heulend – auf den Beifahrersitz.
Kackmann begann den Familienausflug heimlich zu verfluchen, wenngleich er das niemals zugeben würde. Juniors Patent mit den Zweigen klappte. Der Wagen machte einen gehörigen Satz über den Weg, beinahe gegen den Sperrbalken, den Kackmann wegen der beschlagenen Scheiben nicht gesehen hatte. Lediglich der Tannenbaum ist an dem Pfosten entlanggeschrammt. Von den drei oberen Zweigenkreisen hing jeweils ein Zweig - nur noch mit ein wenig Borke dem Stamm verbunden – senkrecht nach unten. Das aber konnte Kackmann nicht sehen.

Es fing zu dämmern an. Die Scheiben wurden klar, alle wollten nach Hause. An gemütliche Einkehr dachte niemand mehr. Kackmann fing vorsichtig wieder damit an, die Melodie von der Hinfahrt zu pfeifen, Mutter Kackmann saß schweigend, ja, wenn nicht gar anklagend auf dem Beifahrersitz. Die Kinder, von der Waldluft müde, vergaßen sogar, sich auf der Rückbank zu streiten.
Ein rotes Licht auf der Straße kurz vor der Molkerei Hasenfleet, fast schon an der Kreisgrenze, ließ Vater Kackmann auf die Bremse treten. Er drehte die Scheibe herunter. Ein freundlicher Polizist bückte sich runter und sagte durch das geöffnete Fenster: „Guten Tag! Fahrzeugkontrolle, die Papiere bitte!“
Gott sei Dank! Kackmann hatte alles dabei und der Wagen war auch gerade in der Werkstatt.
Der Beamte ging um den Wagen, reichte die Papiere durch das Fenster und meinte freundlich: „Alles in Ordnung!“ Wohl als Scherz gemeint fügte er noch hinzu: „Den Tannenbaum haben Sie aber nicht geklaut?“
Er wollte sich schon abwenden, da mischte Basti sich in das Gespräch ein.
„Richtig geklaut haben wir den Baum nicht. Der kommt nämlich aus dem Staatsforst und der gehört sowieso allen. Dieser Baum gehörte meinem Papi!“
Kackmann wäre am liebsten in den Fußraum seines Japaners versunken.
„Herr Kackmann“, sagte der Polizist, „können Sie einen Nachweis darüber bringen, woher Sie diesen Baum haben? Eine Quittung vielleicht?“
Kackmann blätterte in seiner Brieftasche, obwohl er sehr genau wusste, dass er die Quittung dort nicht finden würde.
„Ich habe den Baum gekauft vom Forstamt. Äh, ich habe 60 € dafür gegeben, äh, Kinder sagt dem Polizisten, dass das wahr ist.“
„Das stimmt“, sagt Jenni, „Papi hat dem Jäger 60 € gegeben, damit er für seine Familie Weihnachtsgeschenke kaufen kann.“
„Getrunken haben sie nichts, Herr Kackmann?“ fragte der Polizist. „Das kommt mir doch alles sehr merkwürdig vor. Fahren Sie uns bitte nach zur Polizeiwache in Cadenberge. Wir werden von dort klären, ob Sie den Baum bezahlt haben.“

Glück für Kackmann: Der Förster war gleich am Apparat. Er konnte sich nur zu gut an die Familie erinnern und bestätigte dem Polizisten, dass die beiden Bäume ordnungsgemäß bezahlt wurden.
Die beiden Bäume? Der Polizist runzelte die Stirn. Da war doch nur ein Baum, im Kofferraum? Irgendetwas stimmte heute nicht. Na ja, wird schon seine Richtigkeit haben. „Sie können fahren, Herr Kackmann, und denken Sie daran, dass Sie im nächsten Jahr die Quittung aufheben! Gute Fahrt!“

Almut Kackmann überlegte die ganze Rückfahrt über, ob sie ihr Schweigen brechen sollte. Wenn ja, würde es ein fürchterliches Gewitter geben. Sie entschied sich, weiter zu schweigen – bis zum nächsten Morgen.

Stumm verließ die Familie das Auto und ging ins Haus. Kackmann, allein mit seinem frischen, selbstgeschlagenen Tannenbaum nach einem „herrlichen Familienausflug“, fühlte sich einsam, wie selten zuvor. Während er den Baum auspackte bemerkte er die abgeknickten Zweige. „Nicht so schlimm“, dachte er, „da werde ich neue Zweige in den Stamm einbohren.“
Der regennasse Baum musste in den Heizungsraum zum Abtrocknen. Die schwere Eisentür zum Heizungsraum stieß er mit dem Fuß auf, die Hände waren ja belegt. Ein rascher Schritt vorwärts in den Raum, jedoch nicht schnell genug. Die Tür klappte zu und die Spitze des Weihnachtsbaumes fiel auf der anderen Seite der Tür auf den Boden. Kackmann bemerkte es, aber ihm fehlte der nötige Antrieb die abgefallene Spitze vom Boden aufzuheben.

Zwei Tage vor dem Fest drängte Almut Kackmann ihren Mann, den Weihnachtsbaum in die Stube zu holen. Kackmann hatte fast den Albtraum der Baumexpedition vergessen. Auch im Büro redete er nicht darüber, obwohl seine Kollegen Meiners und Holten ihn einmal fragten, ob er denn einen schönen Baum gefunden habe.
Er ging also in den Keller, griff den schön abgetrockneten, kräftig nach Fichte duftenden Baum und zwängte ihn durch die Tür des Heizungskellers. Zurück blieb ein Nadelteppich. Nicht anders war es an der nächsten Tür und, als der Baum im Wohnzimmer ankam, trug er nur noch die Hälfte seiner Nadeln, drei Zweige hingen wie an einem dünnen Faden, Die Spitze fehlte ganz und gar.
Almut Kackmann war lautlos hinter ihrem Mann in das Zimmer getreten.
„Raus! Raus mit diesem elendigen Baum und sieh zu, wo du einen anderen her bekommst!“ zischte sie mehr als sie sprach durch die kaum geöffneten Zähne ihren Mann an.

Am letzten Tag vor Weihnachten schlich Kackmann sich mit „Fröhliche Weihnachten!“, das alles andere als fröhlich klang, nach Feierabend aus dem Büro. Viele Bäume gab es nicht mehr auf dem Stader Weihnachtsbaummarkt. Die guten Bäume waren längst schon ausgesucht. Kackmann entschied sich am Ende für einen Baum, für den er in den vergangenen Jahren nicht einen Euro hingelegt hätte.

Ach ja! Ganz ist die Geschichte noch nicht zuende. Von Kackmann ganz vergessen, standen am zweiten Weihnachtstag die Familien seiner Kollegen vor der Tür. Großes Hallo! „Und nun wollen wir uns doch einmal euren Weihnachtsbaum ansehen!“ Nett waren sie, die Kollegen. Besonders der lange Holten schwieg zum Kackmannschen Baum. Meiners konnte sich nicht verkneifen, diesen Baum zu kommentieren.
„Weißt du, Erwin, wenn ich mir deinen schönen, frischen und  selbstgeschlagenen Baum so ansehe, glaube ich, dass ich meine „Mickerpalme“ doch lieber weiter vom Weihnachtsbaummarkt in Stade holen werde.“
Mutter Kackmann und die Kinder, soweit sie es verstanden hatten, grinsten. Vater Kackmann wechselte schnell das Thema und versuchte seine Gäste von den Vorzügen japanischer Autos zu überzeugen.

Die Wahrheit über Kackmanns Weihnachtsbaum erfuhren die Kollegen erst im Sommer während des alljährlich stattfindenden Betriebsausfluges. Das war, als Kackmann, der lange Holten und Meiners sich der letzten Liter Bowle angenommen hatten – aus reiner Sorge, dass sie sonst verkommen könnte.

Montag, 25. August 2014

Fremde Stimmen in der Nacht




Kein gutes Zeichen, wenn man „Stimmen hört“. So jedenfalls bei uns im Norden. Besonders noch, wenn niemand sonst diese Stimmen hört.
Ulla hatte damals noch ein ausgezeichnetes Gehör und einen leichten Schlaf gerade in der Zeit, als die Kinder noch klein waren. Wir waren aus dem Ort herausgezogen, hatten ein Haus in damals noch einsamer Randlage gebaut. Es war das erste Haus in einem gerade neuerschlossenen Baugebiet, umgeben von hohen Bäumen und nur wenige Meter von einer größeren Wasserfläche entfernt. Die Natur um uns herum war voller Geräusche, die sich uns erst nach und nach erklärten.
Nichts für Menschen mit leichtem Schlaf.
„Hast du das gehört? Da ist etwas!“
Natürlich hatte ich nichts gehört oder ich konnte die Geräusche der Nacht schnell erklären, weil ich sie von den vielen Nächten, die ich in der freien Natur verbracht hatte, kannte.
Es war in einer Spätsommernacht, der Duft des Strohs auf dem frisch abgedroschenen Acker gelangte durch das geöffnete Fenster bis ins Schlafzimmer.
„Hör ´mal, da sind Stimmen!“ Ulla flüsterte als müsste sie Angst haben, dass sie gehört werden könnte.
Noch völlig verschlafen kann ich beim besten Willen keine Stimmen vernehmen.
„Wo hörst du Stimmen?“
„Jetzt sind sie weg; aber eben waren sie noch da, Männerstimmen. Ich habe sie deutlich gehört.“
„Vielleicht Nachtangler“, sagte ich und drehte mich wieder auf die Seite.
„Sie kamen aber nicht vom Wasser, vielleicht vom Mühlenweg.“

Tage später, an einem ungewöhnlich lauen Abend saßen wir noch beim Schein eines Windlichtes auf der Terrasse. Die Mähdrescher hatten bereits ihre Arbeit wegen des einsetzenden Taus eingestellt und außer einem Käuzchen, dem Platschen eines springenden Fisches oder einem fernen Motorengeräusch herrschte Stille.
„Hörst du, da sind Stimmen!“
Tatsächlich hörte ich Stimmen vom Mühlenweg her. Sie wurden lauter und lauter. Geräusche von Fahrrädern, ein Pedal quietschte bei jeder Umdrehung, durch die Bäume sahen wir ein Licht vorbeigleiten und schon entfernten sich die Stimmen und Geräusche bis sie nicht mehr zu hören waren.
„Das waren die Stimmen, die ich neulich gehört hatte, genau die Stimmen!“ Aus ihrer Art zu sprechen klang heraus: „Siehst du, ich habe doch nicht gesponnen, als ich dich weckte. Da waren wirklich Stimmen.“
Ja, es waren wirklich Stimmen in einer Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag. Was macht eine Gruppe von wahrscheinlich Männern nachts auf dem Mühlenweg? Ein asphaltierter Verbindungsweg, der sonst höchstens von den Landwirten benutzt wird, um zu ihren Äckern zu gelangen. Ein Licht nur aber deutlich mehrere unterschiedliche Stimmen, nichts Beunruhigendes, eben nur nicht zu verstehen.

Einige Wochen später bin ich wie jeden Tag vor dem Schlafengehen noch einmal mit dem Hund vor die Tür gegangen. Die Dunkelheit machte mir nichts, es war nicht so finster, dass man den Weg nicht erkennen konnte. Es regnete und stürmte.  Auf dem Mühlenweg höre ich durch das Geräusch des Windes und Regens Stimmen, die sich schnell nähern. Ich verlasse den Mühlenweg und stelle mich hinter ein paar Bäume vielleicht 20 Meter entfernt. Der Hund hat schon lange gehört, dass sich Menschen nähern. Er steht neben mir, den Kopf aufmerksam in die Richtung der Stimmen gewandt. Ein Licht bewegt sich über den Weg auf uns zu. Gegen den helleren Nachthimmel zeichnen sich mehrere Silhouetten radelnder Personen ab. Sie befinden sich in einem lauten, lebhaften Gespräch, von dem ich kein Wort verstehe. Die Stimmen und Fahrradgeräusche, ich erkannte das quietschende Pedal wieder, verschwinden so schnell in der Nacht, wie sie gekommen waren. Der Hund zog schon die ganze Zeit an der Leine, wundert mich, dass er still gehalten hatte, bewegte sich zum Mühlenweg. Stimmen konnte ich nicht mehr hören; aber das einsame Fahrradlicht war noch gut zu sehen, bis es endlich hinter einer Kurve verschwand.
Was bewegt diese vermutlich jungen Männer am Wochenende, es war wieder ein Wochenende,  mit klapprigen Fahrrädern ohne Licht durch Sturm und Regen zu radeln?
Zurück im Haus bekommt der Hund sein Futter und ich begebe mich ins bereits dunkle Schlafzimmer. Ulla dreht sich zur Seite. Schläft sie vielleicht noch nicht?
„Ich habe die Stimmen getroffen, eben, auf dem Mühlenweg“, sagte ich mit gedämpfter Stimme, um herauszufinden, ob sie wohl schon schläft.
„Lass mich, ich schlaf schon.“
Mir gehen die Stimmen nicht aus dem Kopf. Ausländische Stimmen, vielleicht türkische? Wohin fahren sie mit ihren wenig verkehrssicheren Fahrrädern? Kommen sie auch einmal wieder zurück? Wann? Woher?
Irgendwann fiel ich in den Schlaf, ohne eine Antwort gefunden zu haben.
Ulla schlief schon lange. Seit sie mich überzeugt hatte, dass sie keine Phantomstimmen gehört hatte, und klar war, dass die Stimmen nicht ums Haus schlichen, sondern lediglich auf dem Mühlenweg vorbeiradelten, waren sie kein Thema mehr, und, dass diese Stimmen nun ein Thema für mich waren, interessierte sie nur mäßig.

Über Wochen und Monate hörte ich nachts nun die Stimmen. Draußen mit dem Hund oder durch das geöffnete Schlafzimmerfenster. Antworten auf meine Fragen hatte ich immer noch nicht gefunden. Stattdessen ergab sich eine weitere Frage.
Warum begegnen mir die Stimmen immer nur an den Wochenenden?
Es sollte noch eine Weile dauern, bis sich das Rätsel der nächtlichen Stimmen auf dem Mühlenweg löste.

An einem klirrenden Frosttag im Februar machte ich mit dem Fahrrad über den Mühlenweg aus dem Dorf kommend eine ungewöhnliche Beobachtung. Aus dem Obsthof gegenüber dem Teich stieg eine dünne Rauchsäule auf. Da ich ohnehin gleich mit dem Hund gehen musste, wollte ich die zwei Dinge, Hund ausführen und Ursache des Rauches ermitteln, miteinander verbinden.
Die dünne Rauchsäule stand immer noch über den Bäumen, als ich mich mit Hund und, wie sollte es bei mir anders sein, mit Kamera, der Apfelplantage näherte. Im Obsthof angekommen, löste sich das Rätsel mit dem Rauch schnell. Vor einem kleinen Feuerchen hockte, mir den Rücken zugewandt, ein Mann. Er saß nicht, sondern hockte. Eine Körperhaltung, die ich nur bedingt lange ertragen könnte. Diesem Menschen schien sie nicht fremd, er machte den Eindruck, als hocke er schon stundenlang so vor dem Feuer. Als er meine Schritte über den gefrorenen Boden nahen hörte, richtete er sich erschrocken auf und blickte mir verunsichert entgegen. Besuch im Obsthof war wohl eher die absolute Ausnahme. Schnell erfasste ich die Situation. Dieser Mann mit den schwarzen Stoppeln, braunem Teint und einer unglaublich großen Nase im Gesicht, musste einer von den Türken sein, die sich auch hier in der Gegend bei einigen Bauern als Landarbeiter verdingt hatten. Ich hatte schon von ihnen gehört, nur, begegnet war ich bis zu diesem Zeitpunkt noch keinem von ihnen. Dieser Mann war offensichtlich mit dem Ausschneiden der Apfelbäume beschäftigt, seine Obstbaumschere und eine kleine Bügelsäge lagen neben der Feuerstelle im angetauten Schnee.
Ich ging zielstrebig auf den Mann zu, reichte ihm die Hand, die er erschrocken mit etwas Zögern  nahm, und stellte mich vor.  Mit meinen Worten schien er nicht viel anfangen zu können. Als er das Gefühl hatte, dass weder mein Mischlingshund noch ich eine Gefahr für ihn bedeuteten, zeigte er mit leichtem, etwas verlegenem Lächeln auf die Bäume und dann auf sich: „Ich Appelbäume schneiden. Serr kalt!“
Das mit der Kälte konnte ich nur bestätigen.
„Ich Hassan! Komm an Feuer.“ Mit einer Handbewegung lud er mich ein, an seinem Feuer Platz zu nehmen. Offensichtlich hatte ich Hassan bei seinem Mittagsmahl gestört. Auf einem Stück Papier lagen angebissene Brot- und Käsestücken und am Rande der Glut stand eine angerußte, kleine Teekanne aus Metall. Ich hockte mich vor das Feuer, wie ich es zuvor schon bei Hassan gesehen hatte. Mein Hund begann sich für den Käse zu interessieren, den Hassan durch einen schnellen, beherzten Griff vor dem immer hungrigen Tier retten konnte. Den Regeln orientalischer Gastfreundschaft folgend, bot Hassan sofort an, sein karges Mahl mit mir zu teilen. Ich lehnte dankend ab und hielt stattdessen meine Hände über das wärmende Feuer.
„Serr kalt!“ Hassan schüttelte sich zur Untermalung seiner Worte.
„Ja, es ist heute sehr kalt!“ antwortete ich ihm.
Erlenzweige brannten im Feuer. Totholz aus der Windschutzhecke, die den Obsthof umgab. Bestimmt war es nicht leicht gewesen, dieses Feuer zu entzünden. Trotz meiner Jugenderfahrungen bei den Pfadfindern hätte ich wohl große Schwierigkeiten gehabt, unter diesen Bedingungen ein Feuer zu entfachen.
Hassan und ich begannen eine Unterhaltung über das Wetter, Feuer, Arbeit und ich zeigte ihm das Dach von unserem Haus, das man gerade noch durch die unbelaubten Apfelbäume sehen konnte.
„In dem Haus wohne ich mit meiner Frau und meinen beiden Kindern. Zwei Mädchen.“
Hassan erzählte mir, dass er auch verheiratet sei und drei Kinder habe, in der Türkei. Man konnte sich ganz gut unterhalten, wenn man sich einmal an die Sprache mit arg reduzierter Grammatik gewöhnt hatte. Bevor ich mich auf den Weg zurück machte, fragte ich Hassan, ob ich ein Foto von ihm machen dürfe. Dieses Ansinnen löste erneut Verunsicherung und Unruhe bei ihm aus. Ich erzählte ihm, dass ich Hobbyfotograf sei und mich würden Motive von Menschen an ihrem Arbeitsplatz interessieren. Das beruhigte ihn und er stellte sich sogar mit seinem Arbeitsgeschirr in Pose. Ich machte das Foto, so, wie er sich vorstellte, dass es aussehen müsse. Dann bat ich ihn, sich wieder an das Feuer zu hocken und mit seinem Mittagsmahl fortzufahren. Das war das Motiv, das mich von Anbeginn gereizt hatte. Es hatte so etwas archaisch Natürliches. Der Mensch bei der Befriedigung existentiellster Bedürfnisse: Wärme und Nahrungsaufnahme. Ich hatte schon Freude an den Bildern, als ich den Auslöser der Kamera bediente. Hassan konnte wohl kaum ahnen, was in mir vorging. Ich verabschiedete mich von ihm mit der Ankündigung, dass ich ihm die Fotos demnächst zeigen würde.

Zu Hause angekommen konnte ich es kaum erwarten, in die Dunkelkammer zu gehen. Der Film musste entwickelt werden. Bloß nichts verkehrt machen! Dann die Beruhigung: Der nasse Film an der Leine zeigte kontrastreiche Negative. Ein paar Stunden später lagen die ersten Abzüge auf dem Tisch vor mir. Ich war zufrieden mit meinen Ergebnissen. Was Hassan wohl sagen würde?
Er war nicht mehr im Obsthof, inzwischen war es schon dunkel geworden. Morgen, morgen Nachmittag wollte ich ihm ein Foto bringen.

Am nächsten stieg kein Rauch aus den Obstbäumen auf, das Wetter war umgeschlagen, es regnete. Der Regen war noch schlimmer zum Bäume ausschneiden als der klirrende Frost vom Vortag. Hassan arbeitete, ich erkannte es an dem Fahrrad, das an der Erlenhecke abgestellt war. Er strahlte, als er mich kommen sah, ich war kein Fremder mehr, hatte nichts Bedrohliches für ihn.
„Moin Pettersen!“ begrüßt er mich. Ich hatte vergebens versucht, ihm meinen Vornamen beizubringen. Pettersen hatte vielleicht Ähnlichkeiten mit einem Wort seiner Muttersprache. Hassan freute sich über das Foto und ließ es nach eingehender Betrachtung in den Tiefen seiner Arbeitsjacke verschwinden. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich das Foto selber im Labor entwickelt hätte. Das von mir benutzte  Vokabular entsprach nicht annähernd dem, das er an seiner Arbeitsstelle gewohnt war. Ich spürte schnell, dass er mich nicht verstehen konnte, obwohl er meine Ausführungen mit einem verstehenden Lächeln und ständigem Kopfnicken begleitete. Ich musste ihm das Labor zeigen, damit er verstehen konnte, was ich meinte. Auf einem Stückchen Verpackungspapier notiere ich den besprochenen Sonntag, die Uhrzeit, meinen Namen und zeige noch einmal zu meinem Haus hinüber.
Hassan nickte und ließ den Zettel ebenfalls in seiner Jacke verschwinden.
„Scheißwetter!“ sagt Hassan zum Himmel deutend.
Aus genau dem Grunde verabschiede ich mich mit den Worten:
„Also dann, bis Sonntag!“
Wird Hassan wohl kommen?

Er kam. Bevor ich ihn sah, hörte ich bereits das rhythmische Quietschen seiner Pedale, als er die Auffahrt hochfuhr. Dieses Geräusch?! Die Stimmen in der Nacht!
Sie haben ein Gesicht bekommen - in diesem Moment. Hassan ist eine dieser Stimmen, ich muss ihn befragen nach den Gründen der nächtlichen Fahrradtouren bei jedem Wetter und nur am Wochenende.
Wir tranken Kaffee zusammen und aßen Kuchen. Hassan hatte sich rasiert und trug keine Arbeitskleidung mehr. Hassan blickte unauffällig um sich, nahm alles, was er sah, mit Interesse auf. Das war nicht seine Welt. Nicht die Welt, die ihm aus der Türkei oder Deutschland vertraut war. Vielleicht kannte er sie aus dem Fernsehen. Ich führte meinen Gast in die Dunkelkammer. Neugierig verfolgte er meine Arbeitsschritte im gelben Licht der Laborlampen. Kindliche Freude, als er im Entwicklerbad sein Gesicht entstehen sah. Fast unhörbar hauchte er „Hassan“.
Während die Fotos trockneten, saßen wir mit der ganzen Familie in der Stube und tranken Tee.
„Warum“, fragte ich Hassan, „fährst du mit anderen Männern an den Wochenenden immer spät abends mit dem Fahrrad an unserem Haus vorbei? Ich habe schon oft eure Stimmen gehört, wenn ihr euch unterhaltet. Heute habe ich das Qietschen deiner Pedale wiedererkannt. Du bist doch dabei, bei diesen nächtlichen Fahrten?“
Hassan guckte überrascht als würde er noch überlegen, ob er wirklich alles richtig verstanden habe. Ja, er bestätigte meine Vermutung und begann erst langsamer und dann immer schneller seine Geschichte zu erzählen. Ich versuche sie etwa sinngemäß wiederzugeben.

„Meine Landsleute und ich sind keine Türken, wir sind Kurden. Die meisten von uns sind illegal in Deutschland. Wir arbeiten bei den Bauern aber, weil wir illegal in Deutschland sind, dürfen wir möglichst nicht zu sehen sein. Unsere Bauern behandeln uns sehr unterschiedlich. Einige von uns wohnen in kleinen Wohnungen andere eher in einem Verschlag, der irgendwo abgetrennt wurde. Einige werden von der Familie mitbeköstigt, andere versorgen sich selbst. Der Stundenlohn ist fast überall gleich, die Arbeitgeber scheinen sich abgesprochen zu haben. Ausgezahlt bekommen wir sehr unterschiedlich. Einigen wird die Wohnung vom Lohn abgezogen und in den meisten Fällen lassen wir uns Dinge, die wir brauchen von unseren Bauern einkaufen. Auch das wird uns dann natürlich vom Lohn abgezogen. Das ist auch ganz in Ordnung so. Nur haben wir leider festgestellt, dass die Preise, die wir zahlen, sehr unterschiedlich sind, obwohl doch alle Waren aus dem EDEKA oder ALDI kommen. Gearbeitet wird von Montag bis Sonnabend, Feierabend ist, wenn der Chef sagt, dass Feierabend ist. Der Sonntag ist frei. Hier gibt es auf keinem Hof mehr als einen Kurden. Wir sind abends allein und nur die wenigsten von uns können türkisches Fernsehen über Satellit empfangen. Die meisten gucken deutsches Fernsehen. Da lernt man wenigstens etwas Deutsch. Bei der Arbeit geht das nicht gut, weil viele Arbeiten alleine oder unter Maschinenlärm verrichtet werden. Krank werden darf niemand von uns. Wenn das doch der Fall ist, muss der Bauer zur Apotheke oder sich selbst etwas gegen die beschriebenen Symptome verschreiben lassen. Schwere Verletzungen dürfen nicht vorkommen. Das wäre auch schlecht für den Bauern, wenn sein Arbeiter ins Krankenhaus müsste und herauskäme, dass er keine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland hat. Einige von uns sind schon ein paar Jahre in Deutschland, ohne zwischendurch in die Heimat zu ihren Familien zu können. Ich bin auch schon zwei Jahre hier und habe mein jüngstes Kind noch nicht im Arm gehalten. Pause
Ich weiß nicht, wann ich wieder nach Hause komme. Ich habe auch viel zu viel Angst, dass ich nicht wieder zurück nach Deutschland komme. Einmal haben sie mich schon in den Bergen zwischen Jugoslawien und Österreich geschnappt. Das war nicht schön. Ich wurde in die Türkei abgeschoben und das Geld, das ich für die Einschleusung bezahlt hatte, war verloren. Ich musste es wieder versuchen, wovon sollte sonst meine Familie leben? Ich schicke einmal im Monat Geld von der Post in F. an meine Frau. Es reicht für die Familie und meine Frau kann auch immer noch etwas für ein eigenes Haus beiseitelegen.
Einmal im Monat telefoniere ich mit meiner Frau. In unserem Dorf gibt es ein Telefon in der Bar. Ich rufe am 1. Sonntag immer um 19 Uhr von der Telefonzelle aus in der Bar an. Meine Frau sitzt dann dort bereits und wartet auf meine Stimme aus dem fernen Deutschland. Sie erzählt von den Kindern, aus der Familie und vom Dorf. Ich kann kaum zuhören, weil mir die Tränen über das Gesicht laufen und ich lautes Weinen unterdrücken muss. Sie soll nicht merken, wie traurig ich bin. Manchmal denke ich, dass das Heimweh und die Sehnsucht mich  in diesem fernen Land auffressen. Und nun verstehst du vielleicht, warum wir mit dem Fahrrad durch die Nacht fahren? Wir treffen uns sonnabends und sonntags bei einem Freund, der in einem kleinen Haus auf „seinem“ Bauernhof wohnt. Er hat es dort sehr nett und seine Leute wissen von unseren Treffen, manchmal bringt uns die Oma sogar einen Kuchen rüber. Wir müssen nachts auf möglichst abgelegenen Wegen unterwegs sein, weil wir tagsüber zu sehr auffallen und in eine Kontrolle geraten könnten. Die Wochenenden sind das Schönste vom Leben außer in der Heimat zu sein. Wir lachen, singen, essen und tanzen zusammen und können unsere Sprache sprechen, was uns in der Öffentlichkeit nicht einmal in der Türkei erlaubt wird. Manchmal wechseln wir den Bauern. Das mag der natürlich nicht gerne aber er kann nichts machen, weil sein Verhalten so illegal ist wie unser Aufenthalt in diesem Land. Man muss nur darauf achten, dass man seinen ganzen Lohn schon ausbezahlt bekommen hat.
Es kommt auch vor, dass wir mal in Zeiten mit wenig Arbeit an einen Nachbarn ausgeliehen werden. So lernen wir dann auch noch einmal andere  Menschen kennen.
Hin und wieder verschwindet einer von uns in die Heimat und kommt erst Monate später voller Geschichten und manchmal mit kleinen Geschenken der Familie zurück. Wir kommen fast alle aus der gleichen Gegend. Ich will auch nach Hause, will meinen Sohn sehen und mit dem Hausbau beginnen. Aber ich habe Angst vor der Reise. Du hast es gut, Pettersen, du hast deine Familie um dich.“
Hassan verließ uns, um mit seinen Freunden irgendwohin zu radeln. Wo das war, hatte er uns nicht gesagt. Ich hörte gelegentlich die Stimmen nachts vom Mühlenweg. Dann dachte ich an Hassan und seine Freunde, die sich ein paar Stunden Heimat holten. Einmal begegneten sie mir im Dunkeln auf dem Mühlenweg. Ich hörte sie schon von weitem, auch der Hund blieb stehen und lauschte in die Nacht. Hassan war auch dabei, ich erkannte ihn am quietschenden Pedal. Als die Gruppe näher kam, habe ich mich nicht versteckt. Bevor sie mich ganz erreicht hatten, rief ich: „Hassan, halt an!“ Seine Kameraden mögen sich wohl erschreckt haben. Hassans Pedal schwieg. „Pettersen, bist du es?“ Die ganze Gruppe stand um uns herum, 5 oder 6 Personen. Hassan erzählte mir schnell, dass er in der nächsten Woche in die Türkei aufbrechen wolle. Ich wünschte ihm viel Glück und entließ ihn und seine Freunde in die Nacht. Als weder die Stimmen noch das Fahrradpedal zu hören waren, sagte ich zu meinem Hund: „Komm Hund, lass uns ins Haus gehen.“

Nachtrag
Zwei, drei Jahre später habe ich Hassan vor dem EDEKA Markt getroffen. Wir begrüßten uns wie alte Freunde. Er erzählte mir, dass er seit einiger Zeit wieder hier sei. Auf die Frage, warum er am helllichten Tage im Ort sei, sagte er, dass er einen Asylantrag gestellt hätte und befristete Aufenthaltsgenehmigung habe. Ich lud ihn ein, uns zu besuchen. Er kam nie und ich habe ihn nie wiedergesehen.
Heute sind die Stimmen vom Mühlenweg verschwunden. Die meisten Kurden auf den Höfen sind legal im Land. Die nächtlichen Fahrradtouren der Illegalen gibt es nicht mehr oder sie nehmen andere Wege.
Eines Tages hilft mir Hanifi, der Ehemann einer Bekannten, beim Holzspalten. In der Pause erzähle ich ihm von meinen Begegnungen mit Hassan. Ich erzähle von dem Feuer im Obsthof und hole das Foto von Hassan. Hanifi nimmt es in die Hand und sagt:
„Ja, das ist Hassan, mein Onkel!“
Auf die Frage, ob Hassan auch noch irgendwo hier sei, berichtete Hanifi mir, dass sein Onkel in der Kleinstadt nahe dem Heimatdorf gemeinsam mit einem Verwandten sehr erfolgreich einen Goldhandel betreibe.

Damit, lieber Hassan, sind die nassen und frostigen Tage im Obsthof wohl für alle Tage Erinnerung. Ob du wohl das Foto von dir am Feuer noch besitzt?


B 73 - Eine Katzengeschichte



Es war die Zeit, als Gerd noch jeden Freitag in seinem Holzofen das unschlagbar leckere Brot für sich und seine Freunde buk. Gleich neben dem Katzenhaus, das Gudrun als Herberge für herrenlose und pflegebedürftige Katzen aus dem halben Landkreis eingerichtet hat, stand der von Gerd handgemauerte Backofen. Jeden Freitag wurde eingeheizt und ab 18 Uhr lagen 12 runde und unglaublich duftende Brotlaibe zur Abholung bereit. Sie warteten auf Personen aus dem Bekannten- und Freundeskreis.
Nun wurde das Brot nie einfach so abgeholt. Gerd nutzte die beträchtliche Restwärme seines Ofens, um damit köstlich gewürzte Hähnchenteile in einer schweren, schwarzen Eisenpfanne zu garen. Ab 18 Uhr trafen die ersten Brotabnehmer ein, wählten sich eines der im Holzregal liegenden Brote aus und entrichteten ihren Obulus für Brot und Bewirtung in das bereitstehende Spendenglas. Dann suchte man sich einen Platz am massigen Holztisch im Wintergarten der Gastgeber. Auf dem Tisch befanden sich lauter ausgesuchte Leckereien und die große schwarze Pfanne mit den zerkleinerten Hähnchen. Der Duft des frischen Brotes, der Hähnchenpfanne, verschiedener Wurst- und Käsesorten erfüllte den Wintergarten mit seinen kleinen Zitronenbäumchen und selbstgezogenen Paprika Pflänzchen. Nach gut zwei Stunden Genuss mit Essen, Trinken und lauten Diskussionen über die wichtigen und weniger wichtigen Ereignisse des Dorfes und der Welt löste sich die Runde auf.
Brotholen hatte höchsten Genuss- und Unterhaltungswert. Nur, wenn es gar nicht anders ging, verpasste ich einen dieser Abende. Mir waren sie bald so lieb, wie meiner Schwester ihre Tatortsendungen am Sonntagabend.
Terminüberschneidungen am Freitag  ließen sich nie ganz vermeiden. Trat der Fall ein, begab ich mich am Sonnabendmorgen zu Gudrun und Gerd, packte mein Brot in den Jutebeutel und setzte mich zu Gudrun und Gerd an den Tisch. Während stets eine der zur Hausgemeinschaft zählenden Katzen sich schnurrend an mein Bein schmiegte, nahm ich den Bericht vom Vorabend entgegen.
An einem dieser Sonnabende komme ich in den Wintergarten und ein großer, schwarzer Kater liegt mit geschlossenen Augen anscheinend völlig teilnahmslos auf dem Stuhl, den ich mir zum Sitzen ausgeguckt hatte. Während ich mich auf dem Nebenstuhl niederließ, stellte Gudrun mir den Neuzugang vor.
 „Das ist B 73, den Namen hat er von Gerdi bekommen. Er ist sehr aggressiv im Umgang sowohl mit den anderen Katzen als auch uns gegenüber. Schlechte Zeiten muss er hinter sich haben, anders kann ich mir sein Verhalten nicht erklären.“
„B 73, ein ungewöhnlicher Name“, meinte ich und streckte gleichzeitig meinen Arm aus, um, wie ich es bei allen Katzen tat, das Tier durch Streicheln und Kraulen für mich einzunehmen. Zeitgleich mit Gudruns Warnung erwachte B 73 aus seinem scheinbaren Schlaf, fauchte mich an und schlug mit seiner Tatze gegen meine ausgestreckte Hand, die ich erschrocken im allerletzten Moment  zurückzog.
„Du darfst ihn nicht anfassen. Das dürfen nicht einmal Gerd und ich. Er hat einen extrem schwierigen Charakter, muss schlimme Zeiten durchgemacht haben.“
Noch beeindruckt von der Blitzattacke des Katers fragte ich nach dem Grund für diesen etwas ungewöhnlichen Katzennamen.
Gudrun, die Katzenmutter des Nordkreises, hatte B 73 aus irgendeinem Grunde in ihre Obhut genommen. Weil sie natürlich nicht alle herrenlosen und hilfsbedürftigen Katzen beherbergen kann, bekommen sie bei ihr nur ein Zuhause auf Zeit, bis sie wieder genesen sind und in liebevolle Hände abgegeben werden. B 73 fiel etwas aus dem Rahmen. Er zeigte keinerlei Dankbarkeit für  das schöne Zuhause, das er bei Gudrun und Gerd vorfand. Ganz im Gegenteil, jeder Versuch, sich ihm liebevoll zu nähern, wurde mit einer Attacke beantwortet. Da reichte dann auch bald die Katzenliebe von Gudrun und Gerd nicht mehr. Dieser unsoziale Kater musste schnellstmöglich das Haus verlassen. Per Anzeige sollte B 73 ein neues Zuhause bekommen. Die Zeitungsanzeige war ein kleines Kunstwerk. Sie erweckte Mitleid mit dem Tier verschwieg jedoch auch nicht, dass der Kater nicht ganz problemlos sei.
„…, deswegen nur in fürsorglichen Haushalt ohne Kleinkinder gegen Schutzgebühr abzugeben.“
Wer holt sich schon gerne freiwillig ein Problem ins Haus? Tagelang gab es keine Reaktion auf die Anzeige und keinerlei Anzeichen, dass sich an B 73 Verhalten irgendetwas zum Guten entwickeln würde. Rat- und Hilflosigkeit begannen sich in dem sonst so katzenfreundlichen Haus breit zu machen. Als eine Woche verstrichen war, schien sich eine Lösung des Problems anzubahnen.
Eine etwas älter klingende Männerstimme meldete sich per Telefon.
„Ich ruf´ wegen die Katze in´e Zeitung an, issie noch zu haben?“
Gudruns Herz begann zu klopfen. Jemand fragt wegen des schwererziehbaren Katers an. Gleichzeitig rührt sich ihr Gewissen.
„Ja, aber Sie haben doch gelesen, dass er nicht ganz einfach ist?“
„Ja, hab´ich.“
„Passt er den in Ihre Familie?“
„Ich bin allein.“
„Er ist aber nicht sehr zahm.“
„Macht nix, brauch´ wieso alle paar Wochen ´ne neue Katze.“
Die Alarmglocken der Katzenmutter schrillten.
„Wieso brauchen Sie alle paar Wochen eine neue Katze?“
„Ach wissen Sie, ich wohn direkt an´e B 73, die leben nie lange bei mir.“
Gudrun beendete das Gespräch nicht ohne dem Mann mitgeteilt zu haben, dass  der Kater ein liebevolles Zuhause und nicht den frühen Tod auf der Bundesstraße B 73 zwischen Hamburg und Cuxhaven sucht. Als sie Gerd von dem Interessenten erzählte war auch für ihn sofort klar, dass der Kater auf keinem Fall zu diesem Mann „an´e B 73“ darf.

Es gab keine weiteren Anrufe, niemand interessierte sich für die Problemkatze. Der Kater fand irgendwie einen Weg mit den übrigen Hausbewohnern auszukommen, Katzen und Menschen respektierten seine Marotten.
Er hatte nicht nur ein neues Zuhause sondern auch einen neuen Namen bekommen:
B 73!