Montag, 6. Oktober 2014

Was Wilhelmine Holst aus Freiburg an der Unterelbe mit Elfenbeinküste und Ghana verbindet



„Was darf´s sein, der Herr?“  oder „Junger Mann, was darf´s sein?“
 Ich höre die Stimme von Wilhelmine Holst gelegentlich noch heute, wenn ich den kleinen Bäckerladen in der Hauptstraße betrete. Dabei ist die gute alte Frau Holst nun schon bald zwei Jahre tot. Sie war die Seele des Geschäftes und hatte einst mindestens ebenso wie der leckere Rosinenstuten und Vollkornbrot dazu beigetragen, dass ich diesen kleinen Laden zu meinem Stammgeschäft machte und in den drei anderen Bäckereien des Ortes nur gelegentlich einkaufte. Als ich den Laden für mich entdeckte, hatte sich Wilhelmines Mann bereits zur Ruhe gesetzt und Sohn Heinrich führte die Bäckertradition in der Backstube fort. Wilhelmine interessierte das Rentenalter weder bei sich noch bei  ihrem Mann herzlich wenig. Ihr Platz war hinter dem Verkaufstresen. Auch, als Konrad, ihr Mann, verstarb, dachte sie nicht daran, sich in den inzwischen wirklich wohlverdienten Ruhestand zu begeben.
Sie wurde 75 Jahre, dann 80 und 85 Jahre. Manchmal machten die Füße es nicht mehr so lange mit. Dann setzte sich Frau Holst in ihre Küche gleich neben den Laden und verfolgte das Geschehen im Geschäft durch die geöffnete Küchentür.
Immer, wenn ich den Laden betrat und Frau Holst nicht hinter der Theke stand, ging mein Blick zur Küchentür. Sah ich sie dort sitzen, war immer ein Wort zum Wetter oder Tagesgeschehen fällig. Manchmal heiterte ich sie auch mit einem kleinen Scherz auf und erntete dafür als Lohn zur Antwort:
 „Sie sind ja heute wieder so lustig, Herr Petersen!“

Frau Holst hatte noch einen weiteren Sohn, der mit seiner Familie im fernen Südafrika lebte. Gelegentlich, alle paar Jahre,  begab sie sich auf die weite Reise nach Südafrika, um ihre Familie auf der anderen Erdhalbkugel zu besuchen. Eines Morgens, Frau Holst war schon 90 Jahre oder zumindest knapp davor, vertraute sie mir mit fast verschwörerischer Stimme an:
 „In zwei Wochen reise ich zu meinem Sohn nach Südafrika.“
„Donnerwetter!“ dachte ich bei mir, „ganz schön fit die Frau.“

Und dann war sie plötzlich verschwunden.
Mein Standardblick  zur Küche zeigte mir ein ums andere Mal, dass der Platz mit der guten Sicht in den Laden immer noch unbesetzt war. Ich war schon kurz davor, mir diesen Blickreflex abzugewöhnen, da saß sie wieder auf ihrem Platz, lachte mich an und sagte:
„Bin wieder zurück, Herr Peters!“
Über die zwei fehlenden Buchstaben meines Namens ging ich ebenso großzügig hinweg, wie sie.
„Das freut mich aber,  dass Sie gesund und munter zurückgekehrt sind. Ich finde es ja ganz großartig, dass Sie diese lange Reise auf sich nehmen. Ich glaube, dass es selbst mir schon zu anstrengend wäre. Wie mach Sie das nur?“
Nun hielt es sie nicht länger auf ihrem Stuhl. Sie kam zu mir ins Geschäft, strahlte mich an und verriet mir ihr Geheimnis.
„Ach wissen Sie, Herr Petersen, so schlimm ist das ja gar nicht. Wenn du in der Luft bist, gibt es erst einmal etwas zu essen. Dann mach ich ein bisschen die Augen zu. Und dann, meistens so zwischen Elfenbeinküste und Ghana, steh ich auf und geh  ´n büschen auf dem Gang auf und ab. So geht das dann.“
So war sie, die Wilhelmine Holst. Praktisch und patent, wie sie viele andere Probleme und Krisen in ihrem Leben gelöst hat, hat sie sich auch auf der langen Reise von Freiburg an der Elbe nach Johannesburg zu helfen gewusst.

Nun ist sie tot, meine freundliche Bäckerin. Ich besuche das Geschäft immer noch wegen Stuten und Brot, nur mein Blick geht nicht mehr zur Küche. Warum auch? Wilhelmine Holst werde ich da ja doch nie wieder sehen.
Geblieben ist mir die Erinnerung und, wenn einmal alles verquer läuft, mache ich es wie Wilhelmine Holst: In Gedanken gehe ich einfach zwischen Elfenbeinküste und Ghana ein wenig auf dem Gang auf und ab und, ob du es glaubst oder nicht, meistens hilft es.