Donnerstag, 13. Februar 2014

Ich bin gegen Umwelt



Zwei Geschichten, die im ersten Moment nicht zusammen passen wollen

Das hätte ganz schön schief gehen können!
Ich war Chef der SPD Samtgemeinderatsfraktion. Zusammen mit Heiner von Ahn und Jan Seebeck von der Freien Wählergemeinschaft haben wir eine Koalition gebildet und konnten so mit knapper Mehrheit den Bürgermeister stellen. Zur Beratung im Rat stand ein Umweltproblem an, zu dem die Opposition eine ganz andere Meinung hatte, als wir. Es kam also auf jede Stimme an. Wir machten eine gemeinsame Fraktionssitzung mit Heiner und Jan. Sehr lange wurde über unseren Antrag diskutiert bis er endlich ausformuliert war und in eine Probeabstimmung ging. Nicht alle schienen das Verfahren auf Anhieb verstanden zu haben. Zwei Probeabstimmungen waren nötig und dann stimmte das Ergebnis so, wie ich es mir gewünscht hatte.
Wir verabschiedeten uns bis zur Ratssitzung mit der Versicherung, dass wir selbstverständlich alle für unseren Antrag stimmen würden.
Am Tag der Ratssitzung lief alles nach Plan. Wir waren vollzählig, niemand von uns war krank. Ich trug die Argumente für unseren Antrag vor und wurde durch einem Beitrag der WG unterstützt. Der Friedeberger Bürgermeister hielt ein flammendes Plädoyer gegen unseren Antrag als ginge es um das weitere Bestehen der Menschheit auf Erden.
Der Ratsvorsitzende rief zur Abstimmung auf. Siegessicher ließ ich meinen Blick über die Fraktion schweifen.
Was ist denn das, Gottfrieds Arm bleibt unten. Ich versuche es mit Zeichensprache. Vergebens, er scheint mich nicht wahrzunehmen. Dann die Gegenprobe. Alle Arme der Opposition gehen nach oben und mit ihnen auch der von Gottfried.
 Der erste Schreck war weg, als das Wahlergebnis verkündet wurde. Bei der Opposition fehlte ein Ratsherr. Gott sei Dank!
Sitzungspause vor dem nichtöffentlichen Teil. Ich begebe mich sofort zu meinem abtrünnigen Kollegen.
„Gottfried, wie konnte das denn passieren, wir hatten doch alles genau besprochen. Warum hast du mit denen gestimmt?“
Gottfried guckt mich mit unschuldigem Blick an und meint ganz ruhig:
„Ich bin gegen Umwelt!“
Ja, so ist das nun einmal in der Demokratie. Jeder ist nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Und, wenn die ganze Fraktion „für Umwelt“ ist hat ein Ratsherr immer noch das Recht „gegen Umwelt“ zu sein.

Ich bin ja „für Umwelt“, und das nicht nur in dieser einen Abstimmung! Ich bin immer für Umwelt – na ja, fast immer für Umwelt.
Was ich zum Beispiel gar nicht gut leiden kann ist, wenn jemand seinen Müll unter sich fallen lässt oder ihn in der Natur entsorgt. Das kann mich richtig wütend machen.
So war es zum Beispiel als Kalli B. einen Tag und eine Nacht und einen Tag über Pfingsten am Fischteich saß und angelte. Nicht nur, dass er fast unter meinem Schlafzimmer Fenster saß. Ständig, Tag und Nacht bekam er Besuch von seinen „Kumpels“, die nur mal eben mit dem Auto oder Moped angerauscht kamen, um zu hören, ob Kalli schon einen Biss gehabt hätte. Einige Besucher haben laut das Autoradio weiter laufen lassen.
Ich verstehe nicht viel vom Angeln. Vielleicht beißen sie ja mit Musik besser, die Fische. Mir hat es jedenfalls nicht gut getan.
Ich kannte Kalli noch gut aus der Schule. Es gab niemanden an der ganzen Schule, der so verrückte Erklärungen für nicht angefertigte Hausaufgaben vorbrachte, wie er. „Mein Hund ist damit abgehaun!“ war noch eine der harmlosen.  Kalli rauchte in der Schule, störte den Unterricht und nun ist er schon einige Jahre aus der Schule und er  nervt hier immer noch, nur wenige Meter von meinem Haus.
Ich gehe zu ihm und versuche ihm mein Unbehagen zu erklären. Kalli nickt verständig. Er sitzt in der Mittagssonne mit nacktem Oberkörper in der Sonne, Zigarette im Mundwinkel nimmt den letzten Schluck aus seiner Halbliter Holsten Dose, die er anschließend auf den Leergut Hümpel neben sich entsorgt.
„Weiß auch nicht, warum die heut nicht beißen!“
Damit war für Kalli der Fall erledigt. Nicht für mich. An der Situation am Teichufer änderte sich wenig bis Kalli am nächsten Morgen in der Frühe beschloss, die nächsten Stunden in seinem Bett zu verbringen.
Alles klar?
Nichts war klar, als ich mit dem Hund an Kallis Angelplatz vorbeikam, lagen all seine geleerten Holstendosen im Gras. Also das, genau das, kann mich so richtig wütend machen!
Ich hatte eine Idee und begann sie sofort in die Tat umzusetzen.
Ich packte alle Dosen und noch einen leeren Magarinepott in einen Karton, brachte ihn zur Post und schickte ihn per Nachnahme an Kalli. Als Nachnahme hatte ich die Höhe des Portos eingetragen. Doris am Schalter schüttelte den Kopf.
„Kannst du doch auch so vorbei bringen!“  murmelte sie während sie die Papiere für die Nachnahme ausfüllte.
„Nee, hat alles schon seinen Sinn.“
„Ja, wenn´s  denn so ist.“
Ich verließ die Post von Zweifeln geplagt. Was ist, wenn er die Nachnahme nicht annimmt? Dann habe ich mich über seinen Krach, die Dosen und dann, zu guter Letzt, auch noch über das überflüssig ausgegebene Porto aufgeregt. Zurückholen? Nein, ich kann mich jetzt nicht vor Doris zum Deppen machen.
Ich bekam das Paket nicht zurück und blieb auch nicht auf dem Porto sitzen.
 Die Unruhe blieb. Sie blieb über viele Jahre, besonders, wenn ich an Kallis Haus vorbei kam oder wenn ich ihn irgendwo einmal sah.
Dann passierte, was irgendeinmal passieren musste. Ich komme in den Friedeberger Hof und da sitzt Kalli am Tresen.
„Na, Schulmeister, trinkst du´n Bier mit mir?“
„Muss eigentlich gleich weiter.“
„Na los, Karin, noch mal zwei Schnelle.“
„Na gut.“
Ich setze mich auf den Hocker neben ihm, Helmuts Hund kommt gucken, wer da neu in die Gaststube gekommen ist.
Das Bier steht vor uns.
„Na, denn“, sagt Kalli, „hau wech den Kram!“
„Prost, und danke noch mal“, sage ich und nehme einen tiefen Schluck.
Kalli wischt sich mit seinen grauschwarzen Mechanikerhänden den Schaum vom Mund, sieht mich an und sagt:
„Das warst du damals?“
Ich wusste genau, was er meinte und er wusste genau, dass ich es war. Stand ja schließlich auf der Nachnahme.
„Was?“
„Na mit die Dosen, die meine Mudder angenommen hat.“
Abstreiten war zwecklos. Zugeben und fluchtbereit halten! Kalli war groß, stark und neigte zu Problemlösungen, die mir fremd und unangenehm sind - bis zum heutigen Tag.
„Ja“, sag ich in äußerster Anspannung.
Aber Kalli hat sich anscheinend seit damals weiter entwickelt. Nach einem weiteren Schluck fragt Kalli:
„Und warum?“
Ich weiß nicht, warum mir gerade da Gottfried in den Sinn kam.
„Weil, weil ich für Umwelt bin.“
„Ach so“, sagt Kalli. „Machst du uns noch mal zwei Schnelle, Karin, er muss ja gleich los.“
„Die gehen aber auf mich, Karin.“
Das hätte nämlich auch ganz schön schief gehen können, ich kenn doch Kalli.

Dienstag, 11. Februar 2014

Die scharfe 8




 Diese Geschichte habe ich meiner Schwester Regine geschrieben, als sie drei Wochen in einer Reha Klinik verbringen musste. Ich hoffte sie ein wenig von ihrer Trübsal ablenken zu können.

Die „Scharfe 8“ oder mein jüngstes Verhältnis



Für meine Schwester Regine (die Liebe)

Na, meine Kleine, Schonzeit ist um und voller Stundenplan, oder? Ich wünsche dir, dass du zu etwas Ruhe kommst und aufgetankt zurückkehrst.
 Während du von Anwendung zu Anwendung hastest, kämpfe ich mit der scharfen 8, mit meinen Erinnerungen an meinen letzten Besuch bei dir.

Zuletzt heute Morgen.
Ich wollte es nicht und doch: Es war wieder die verflixte und geliebte scharfe 8, die mich an dich erinnerte. Warum muss sie es sein und nicht dein schönes Bild mit den Regenschirmen in meinem Flur?
Eine Ziffer, gegen die ich wahrlich nichts habe. Ganz im Gegenteil, die 8 ist eine der schöneren Zahlen. Gegen die 7 hatte ich immer etwas.
Susanne, unsere Putzhilfe, hat es sofort bemerkt, wie schon in der vergangenen Woche.
Sie kommt rein: Is sie noch hier oder hast du schon wieder?
Sie is noch hier, und ich hab´ auch wieder.
Wieso fragst du?
Hab ich gleich gemerkt, als ich reinkam. Scharfe 7 oder 8.
Scharfe 8!
Sie hat sich also diesen herrlichen, wundersamen Namen gemerkt.
Ulla hat Heuschnupfen, das lenkt ab, auch von meinem kleinen Geheimnis, das für Susanne schon längst keines mehr ist.
Trotzdem, es muss eine Lösung her, lange kann es so nicht mehr gut gehen. Die scharfe 8, meine Bekanntschaft vom Schlump, beginnt zum Problem zu werden.
Ich habe mich meiner Schwägerin und Freundin Andrea in Nürnberg anvertraut. Sie hat Verständnis, hatte auch schon einmal etwas mit einem Ascheberger (was Tom nicht so behagte). Ich hatte damals auch noch den Kontakt hergestellt.
So etwas verbindet.
Andrea: Du musst sie loswerden und zwar schnell (scharfe 8) oder es wird dir ewig anhaften. Ulla wird´s merken, du weißt ja, die feine Hilker Nase.
Leichter gesagt als getan!
Abschied auf Raten?!
Nur eine bedingte Lösung. Wenn jetzt keine Ferien kämen, hätte ich das Problem wohl in zwei Tagen gelöst. Wenn Ulla morgens aber nicht aus dem Haus geht wird mein Kontakt zu ihr (der 8, der scharfen) wohl gegen Null gehen. Das macht die Angelegenheit nur pikanter.

Nora ruft an, fragt, ob es zu früh sei?
Es ist kurz vor 9 Uhr.
Nein sage ich, meine Bekanntschaft vom Schlump hält mich schon seit einiger Zeit auf Trab.
Sie schweigt, wollte eigentlich einen Termin mit mir absprechen.
Kannst du schweigen? frag ich.
Ähm, ja.
Und dann hab´ ich es ihr alles erzählt, wie wir uns begegnet sind, auf dem Wochenmarkt am Schlump. Wie sich die Geschichte in der letzten Woche entwickelt hat und warum Geheimnistuerei irgendwann nicht mehr möglich ist und was du damit zu tun hast.
Sie lacht über mein Problem. Frau!

Der Müllwagen fährt mit gelbem Blinklicht vor. Entsorgen?
Auf was für Gedanken man in Krisensituationen kommt. Entsorgen? Nach dieser herrlichen, gemeinsamen - wenn auch heimlichen - Woche.
Ich mache mir Sorgen, sie (die scharfe 8) wird täglich weniger. Auch bei mir hinterlässt die Beziehung Spuren. Leider werde ich nicht weniger. Ganz im Gegenteil.
Ich sage nur 40%!

Ich habe mich entschieden, gleich, wenn Susanne das Haus verlassen hat, werde ich noch eine letzte, sehr intensive Begegnung mit ihr herbeiführen. Ich werde sie einfach so vernaschen, meine Freundin vom Schlump, und das soll dann auch das Ende unseres Verhältnisses sein.
 
Schwarzbrot, Butter und dick geschnitten darauf die "Scharfe 8". Dazu die Terrassentür auf und eine schöne, frischgebrühte Tasse Kaffee dazu.
Was kann es Schöneres geben, in unserem Leben ...
Nachsatz:
Fast nichts ist ausgedacht! Es gibt sie wirklich, die „Scharfe 8“. Ich habe sie am Schlump getroffen, mehrfach versiegelt nach Freiburg überführt und portionsweise vernascht. Es ist der köstlichste Tilsiter, dem ich in meinem langen, käsebewegten Leben begegnet bin. Gebt unter GOOGLE einfach nur Scharfe 8 ein und ihr erfahrt mehr über meine Freundin mit dem markanten, scharfen Geruch. Besser noch: Einfach mal mit 100 g versuchen. Ihr werdet euer blaues Wunder erleben. Der Postbote gibt die Post beim Nachbarn ab, der Nachbar lüftet nur noch über die Fenster, die nicht zu euch zeigen. Überraschungsbesuchern fällt plötzlich ein, dass bei ihnen zu Hause die Herdplatte noch an ist, und, wer gerade seinen Schnupfen hinter sich hat, wünscht sich noch einen kurzen Rückfall mit heftig verstopfter Nase.
Und, wenn eure MitbewohnerInnen eure Leidenschaft für diesen Käse nicht teilen, ist eine Beziehung zur „Scharfen 8“ mindestens so belastend wie ein Verhältnis der ganz gewöhnlichen Art!

9. November 2009



9. November 2009 im STADER TAGEBLATT

Ich nehme meine Tageszeitung zur Hand, STADER TAGEBLATT, und sehe die Meldungen der ersten Seite. Der HSV hat´s bei Hannover 96 vergeigt, es gibt einen Gipfel zur Schweinegrippe, Rund 130 Tote bei US – Einsatz in Afghanistan. Dann feierte ein Weltuntergangsfilm in Berlin Premiere und – natürlich das Topereignis – Einheit – heute wird  gefeiert. Seite 2, die Welt schaut auf Berlin! Die Großen der Welt feiern sich und – ein bisschen auch das Ereignis des Mauerfalls!

Ein Freund bringt mich drauf: Heute vor 71 Jahren, am 9. November 1938, hätten die Großen der Welt schon einmal Gelegenheit gehabt, ihre Blicke auf Berlin und Deutschland zu richten. Sie haben es nicht getan, zumindest nicht spürbar.

Heute beseitigen Angestellte der Berliner Stadtwerke Berge von Müll an den Stätten öffentlichen Gedenkens an den Mauerfall. Heute vor 71 Jahren haben in ganz Deutschland Bürger jüdischer Abstammung Scherben ihrer zertrümmerten Schaufenster- und Wohnungsscheiben aufgefegt. Verwüstete und ausgeplünderte Geschäfte, noch rauchende Brandstellen der meisten  Synagogen zeugten von staatlich verordneter Zerstörungswut. Tränen der Trauer, der Wut und der Fassungslosigkeit begleiteten damals die Aufräumarbeiten. Tränen wegen verschleppter Familienmitglieder, die zum Teil nie wiederkehrten, in irgendwelchen Polizeikellern zu Tode kamen. Tränen über die Häme der Gaffer, Tränen der Fassungslosigkeit ob des Wegschauens der alten Freunde und guten Nachbarn. Fassungslosigkeit darüber, Opfer eines Pogromes inmitten ihres Heimatlandes geworden zu sein.

71 Jahre später ein großes Freudenfest in Berlin. Die Großen der Welt feiern sich und den Mauerfall. Der Fall der Mauer ist ein guter Grund zu feiern. Mit ihr verschwand ein weiteres Unrechtssystem von Deutschem Boden, die Menschen des anderen Deutschlands hatten von einem Tag zum anderen viele der so sehr und so lang vermissten Freiheiten.

10. November 2009, ich blättere durch das TAGEBLATT. „Berlin und die Welt feiern“ lautet die Topmeldung. Etwas kleiner dann „Aufruf gegen Kinderarmut“ und „Mehr Kindergeld“. Ich blättere weiter und finde viele Größen dieser Welt. Seite 3: „Tränen der Rührung überall“. Überall? Was denken die Überlebenden des Pogroms vom 9. November 1938?  Es gibt sie, die Überlebenden. Sie waren damals Kinder oder junge Erwachsene. Dieser Tag damals und die folgenden Ereignisse in Deutschland haben ein lebenslanges Trauma  bei ihnen hinterlassen.
Vielleicht weinten sie auch – gestern oder heute? Vielleicht weinen sie immer noch.

Ich blättere weiter im TAGEBLATT und finde nicht einen klitzekleinen Hinweis auf die Ereignisse 1938. Nicht in der Dienstagsausgabe, nicht in der Montagsausgabe. Vielleicht übersehen?
Hat vielleicht einer der Staatsgäste zum Gedenken an das vor 71 Jahren stattgefundene Pogrom irgendwo in Berlin einen Kranz niedergelegt? Ich habe nichts darüber gehört.
Und mein TAGEBLATT? Wird es vielleicht doch noch daran denken, dass es am 9. November auch noch andere gedenkenswerte Ereignisse gab?

Montag, 10. Februar 2014

53°52´ N, 09°05´S Der Baljer Leuchtturm von 1904



53°52‘ N, 09°05‘S
Der Baljer Leuchtturm von 1904
Die Geschichte von der Rettung eines maritimen Baudenkmals


                      



 3500 Menschen haben 2012 den alten Leuchtturm in Balje Hörne besucht. Noch vor zwei Jahren wäre das undenkbar gewesen. Der Turm steht in einem Gebiet mit sehr hohen Naturschutzauflagen und es gab ein ganzjähriges Betretungsverbot. Im Jahre 1980 hatte man das Gebäude als maritimes und technisches Denkmal anerkannt und es in die Liste der Baudenkmale des Landkreises aufgenommen. Der Schutzstatus allein ist allerdings, wie viele andere Baudenkmale zeigen, noch kein Garant, fürs Überleben. Der Landkreis Stade nutzte das Gebäude eine Zeit als Domizil für den Vogelwart im Schutzgebiet. Im Laufe der Jahre blätterte die Farbe und Feuchtigkeit, der Tod aller Bauwerke, begann durch Risse im Mauerwerk in das Gebäude einzudringen. Zeitweilig gab es sogar ein Betretungsverbot wegen Baufälligkeit. Das Interesse, Geld in das abgelegene Gebäude ohne spürbares öffentliches Interesse zu investieren, hielt sich im sehr überschaubaren Rahmen.
Das änderte sich ab 2004. Waltraud Gebhard, gebürtige Hörnerin und seit einigen Jahren wieder in ihr Elternhaus nach Hörne zurückgekehrt, bekam von ihrem Neffen zu ihrem Geburtstag einen Becher mit den Abbildungen des Baljer Ober- und Leitfeuers. „Sieh ´mal“, meinte der Neffe, „der Turm ist ja 100 Jahre alt, wollt ihr das nicht feiern?“ Waltraud Gebhardt griff die Idee auf und begann im Dorf für eine Leuchtturm Geburtstagsparty zu werben. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, selbst die freiwillige Feuerwehr, die den Leuchtturm auf ihrer Standarte trägt, war nicht zu begeistern. So schnell ließ Waltraud Gebhard sich nicht entmutigen und richtete privat in ihrem Garten eine Feier zum 100jährigen Geburtstag des Baljer Leuchtfeuers aus. 30 Nachbarn und Freunde folgten der Einladung und hatten sogar die Erlaubnis vom Landkreis für einen kurzen Turmbesuch im Schutzgebiet bekommen.



Die Geburtstagsgesellschaft war sich bald einig darüber, dass man dieses maritime Bau- und Kulturdenkmal in ihrer Gemeinde nicht länger dem Verfall und der Nutzungslosigkeit preisgeben dürfe. Schnell waren die 7 notwendigen Personen gefunden, um 2005 den „Förderverein Baljer Leuchtturm von 1904 e.V.“ mit der Zielsetzung, den alten Leuchtturm zu erhalten und ihn einer sinnvollen Nutzung zuzuführen. Der erste Vorsitzende des Vereines war Gerhard Gebhardt, der auch heute noch sehr interessiert und engagiert die Geschicke des Turmes begleitet.
Unter seiner Leitung begann der Verein ein Nutzungskonzept für den Turm zu entwickeln und für Freunde nicht nur in der Öffentlichkeit sondern besonders auch bei der Gemeinde, Samtgemeinde und dem Landkreis zu werben. Die Gemeinde unter Federführung von Bürgermeister Hermann Bösch und die Samtgemeinde mit Bürgermeister Edgar Goedecke waren schnell im Boot. Schwieriger gestalteten sich die Verhandlungen mit dem Landkreis als Eigentümer mit den zuständigen Ämtern für Denkmal- und Naturschutzangelegenheiten.
Zwei Gründe sorgten für einen Sinneswandel der zuständigen Ämter:
·         Die Aktiven des Fördervereines ließen sich nicht entmutigen. Die Drochterser und Harsefelder Briefmarkenfreunde richteten ein Sonderpostamt mit einem eigenen Stempel anlässlich des hundertjährigen Leuchtturm Geburtstages ein. Immer wieder sorgte das Ehepaar Gebhardt und seine Mitstreiter mit Vorträgen, Ausstellungen und Presseartikeln dafür, dass sich bald schon ein unübersehbares öffentliches Interesse für das fast schon vergessene Baudenkmal am Elbufer entwickelte.
·         EU-Förderprogramme boten eine Chance, die Kosten für eine Turmsanierung aufzubringen.
Mit der Bewilligung der Fördermittel rückte der Förderverein Baljer Leuchtturm von 2004 e.V. seinem Ziel, das historische Bauwerk zu erhalten, einen großen Schritt näher. Es blieb das Problem des öffentlichen Zugangs durch das Schutzgebiet. 2011 gab der Landkreis Stade den Turm an sechs Wochenenden im Juli und August zur Begehung frei. Für 2012 wurde dann zwischen allen Interessensvertretern ein Kompromiss ausgehandelt, mit dem der Förderverein gut leben kann: Im Juli und August, außerhalb der Brut- und Setzzeiten sowie nach Abflug der Rastvögel und vor deren Rückkehr ab September ist der Turm täglich, außer montags und freitags, von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Das ist auch für Dr. Uwe Andreas, den Naturschutzwart des Landkreises Stade, eine Lösung, die im Einklang mit den Interessen von Brut- und Rastvögeln steht.
Außerhalb dieser Zeiten gilt weiterhin das strikte Betretungsverbot selbst für den Förderverein. Der 1. Vorsitzende, Eckard Klitzing, und seine Vereinsmitglieder sind mit dieser Regelung zufrieden. Klitzing: „Wir wollen uns ja auch an der Natur erfreuen. Deshalb tragen auch wir von uns aus dazu bei, unsere Gäste auf ein naturverträgliches Verhalten hinzuweisen.“ Dazu gehört, dass nicht von der Zuwegung abgewichen wird, kein Müll anfällt und das Schutzgebiet ausschließlich in der Absicht betreten wird, den Turm zu besuchen.
Bei der Innensanierung und der Ausgestaltung des Turmes mit Hinweistafeln und Exponaten haben Vereinsmitglieder viele Stunden Eigenleistung eingebracht. Die Betreuung des Turmes und der Besucher haben die Mitglieder des „Förderverein Baljer Leuchtturm von 1904 e.V.“  übernommen. Zu Beginn des Jahres wirbt der Verein in seiner Mitgliederschaft ehrenamtliche LeuchtturmwärterInnen an. Sie sorgen während der Öffnungszeiten für die Aufsicht im Turm und stehen besonders den fremden Gästen für Auskünfte zur Verfügung. Ilse und Herbert Bruns haben diese Aufgabe 2012 ausgeübt und sich auch schon wieder für 2013 einteilen lassen. „Es war hier keinen Moment langweilig“, meinte Ilse Bruns, „wenn keine Gäste hier waren, konnte man sich an der Natur satt sehen.“
Naturfreunde und Geschichtsinteressierte kommen hier ebenso auf ihre Kosten wie Liebhaber der großen und kleinen Schiffe, die ohne Pause am Leuchtturm vorüberziehen. Kaum irgendwo anders auf der Welt dürfte es eine derartige Schiffsdichte geben wie gerade an dieser Stelle. Sämtlicher Verkehr, der durch den Nord-Ostsee-Kanal geht sowie der gesamte Schiffsverkehr nach und von Hamburg kann von diesem trockenen, erhöhten Platz aus nächster Nähe erlebt werden. Schautafeln helfen auch den Binnenländern zu verstehen, was sie sehen.
Die Naturfreunde blicken direkt auf das Wattufer, wo sich die heimische und ortstypische Vogelwelt ungestört von den Beobachtern auf ständiger Nahrungssuche befinden. Bildtafeln im Leuchtturm erklären den Lebensraum und zeigen Abbildungen von den hier beheimateten Vogelarten.
Den historisch interessierten Gästen wird in den einzelnen Etagen dargestellt, welch bescheidenes und einsames Leben die Leuchtturmwärter fern des Dorfes hinter dem Deich hatten. Besonders bei Sturmfluten mit länger anhaltenden „Landunter-Phasen“ gab es keine Verbindung zur Familie und zum Dorf. Die Brandung rüttelt an den Fundamenten und bevor die unteren Fenster zugemauert waren, lief manches Mal das Erdgeschoss voll Wasser. Besonders schlimm war es am Abend des 16.Februar 1962. Das Wasser stieg so hoch wie niemals zuvor, und der Sturm wollte nicht aufhören. Die Wellen zerstörten die Telefonleitung, zerschlugen den Windfang vor der Eingangstür und rissen die Gasflaschen vom unteren Balkon und das Leuchtfeuer erlosch. Um Mitternacht wurde es ganz dramatisch. Ein vor Brunsbüttel vor Anker liegendes Schiff, die Silona, riss sich los und trieb manövrierunfähig auf den Turm zu. Der diensthabende Leuchtturmwärter, Walter Drygala, hat Blut und Wasser geschwitzt. Er hatte bereits die Schwimmweste angelegt und wollte im Moment der Kollision vom oberen Balkon aufs Schiffsdeck springen, bevor ihn der zusammenbrechende Turm mit in die Fluten reißen würde. Soweit kam es dann nicht. Die Silona trieb knapp am Leuchtturm vorbei und strandete mitten im überfluteten Außendeichsgelände. Für das Schiff gab es von hier kein Zurück ins Wasser, es wurde an Ort und Stelle abgewrackt.






Die Geschichte des Leuchtturmes
1903 wurde der Baljer Leuchtturm bau- und zeitgleich mit dem Belumer Turm gebaut. Damals sah es ganz anders aus als heute. Dort, wo heute der neue Landesschutzdeich verläuft, war zur Bauzeit die Wattkante. Ein etwa 4 km langer Pfad führte von der damaligen ersten Deichlinie in Balje Hörne durch die Außendeichsweiden, Gräben und kleinere Priele mussten über schmale und wackelige Stege gequert werden. Ein Erreichen der Baustelle von Landseite wäre nur unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen. Man entschied sich, die Baumaterialien auf dem Seeweg heranzuschaffen. Der Turm stand zu damaliger Zeit im Watt und ein 350 m langer Faschinendamm, der bei mittlerem Hochwasser gerade frei vom Wasser blieb, bildete die Verbindung zum Außendeich.
                                             
Am 1.3.1904 wurde der Turm als Leit- und Quermarkenfeuer gezündet. Die erste Inbetriebnahme erfolgte mit Petroleum-Glühlicht, einer Gürtellinse mit 250 mm Brennweite und Otterblenden mit Antrieb durch ein Gewichtsuhrwerk. Bereits 20 Jahre später gab es eine dreijährige Betriebspause für den Baljer Leuchtturm, eine Richtfeuerlinie auf dem Hullen ersetzte vorübergehend das 1904 in Dienst gestellte Leuchtfeuer.

Weitere Stationen in der über 100jährigen Geschichte des Baljer Leuchtturmes:

·         1929 Umstellung von Petroleum auf Flüssiggas. Neben dem Turm wurde ein Gastank aufgestellt
·         1931 erhielt  die Optik eine 2. Gürtellinse mit 500mm Brennweite.
·         1959 Umstellung auf Flaschengas. Der Gastank wurde abgebaut.
·         1962 Umstellung auf automatischen Betrieb mit elektrischen Glühlampen. Ab jetzt wurde das Feuer ferngesteuert, die Ära der Leuchtturmwärter war beendet.
·         1980 am 15. Dez. wurde das Feuer im Turm gelöscht, ein neuer Turm übernahm seine Aufgabe.


Aktuelle Informationen über den Förderverein Baljer Leuchtturm von 1904 e.V. und besonders auch die aktuellen Begehungszeiten für das Jahr 2014 sind auf der Homepage des Vereines  www.foerderverein-baljer-leuchtturm.de zu finden.