Montag, 25. April 2016

Handy? Brauche ich eigentlich nicht!



Lange Zeit brauchte ich kein Handy. Heute habe ich eins, ertappe mich aber immer wieder, wenn die monatliche Rechnung eintrifft, bei dem Gedanken, ob der Nutzen des Telefons in einem angemessenen Verhältnis zu den monatlichen Kosten steht.
Ich habe das Handy noch und werde es auch behalten – heute mehr denn je!
Nach einem Besuch bei meiner Tochter in Berlin sitze ich in der S-Bahn von Treptower Park in Richtung Südkreuz. Um mich herum sind alle (und noch einmal in Ziffern: 1111) mit ihren Smartphones beschäftigt. Zwei junge Frauen tauschen sich über ihre Nachrichten aus.
„Spinnt doch die Omi! Ich soll mir ein Unterhemd anziehen, weil es doch kälter ist, als es aussieht!“
Beide Frauen brechen in schallendes Gelächter aus.
Oma kann zwar schon SMS schreiben. Wie junge Mädchen von heute sich aber auf gar keinen Fall anziehen, weiß sie nicht.

Was ist bloß in den letzten 10, 20 Jahren passiert?
Das mache ich nicht mit, die sklavische Abhängigkeit vom Handy. Erster Halt: Sonnenallee. Die neu zugestiegenen Fahrgäste verteilen sich über die freien Plätze und, was machen sie?
Natürlich, mit einer Ausnahme, einem alten Mütterchen mit Kopftuch, setzen sie alle ihr Handy in Betrieb.
Wahnsinn! 40-50 Menschen um mich herum und nur das Mütterchen und ich ohne Handy. Ich streiche über meinen Kopf.
Was war das denn? Ich habe kein Kopftuch. Was uns verbindet, ist die mediale Abgeschnittenheit vom Rest der Welt – nicht das Kopftuch!
Ich könnte Lena eine SMS schreiben, dass ich den Zug erreicht habe.
Wo ist das Handy? Nicht in der Brusttasche meines Hemdes.
In der Jacke? Zwei Male habe ich alle Taschen durchwühlt. Nichts!
Ja, und? Entweder ist es im Koffer oder es liegt in Lenas Wohnung.
Ich bin extrem nervös.
Wenn es mir aber jemand aus der Tasche gezogen hat, oder ich es aus der Tasche verloren habe?
Wäre sehr ärgerlich. Allein schon wegen der vielen abgespeicherten Kontakte.
Wie kommuniziere ich eigentlich gleich in Hamburg? Ich kann dort keine Verbindung zu Drea bekommen, ich habe ihre Handynummer natürlich nicht im Kopf und auch nirgendwo anders gespeichert.
Ulla will mich vom Bahnhof in Hemmoor abholen. Sie weiß noch nicht, wann mein Zug ankommt. Finde ich noch eine Telefonzelle? Wie mache ich es, wenn ich über Glückstadt mit der Fähre fahre? Ich kann erst von der Fähre anrufen und sagen, wann ich auf der anderen Seite sein werde. Gibt es dort ein öffentliches Telefon und wenn ja, hängt da noch ein Hörer dran?
Diese Fragen jagen in Sekundenschnelle durch meinen Kopf.
Ich brauche Gewissheit, ich muss wissen, ob das Handy irgendwo im Koffer liegt.
Die Plätze gegenüber werden frei. Vorsichtig lege ich den Koffer auf die Sitzbank und öffne den Reißverschluss. Das Hemd liegt im Deckelfach, traditionsgemäß das Behältnis für die Schmutzwäsche. Ein Strumpf rutscht mir entgegen, eine Unterhose bereitet sich als nächstes vor, das Koffergefängnis zu verlassen. Ich kann die Lawine zum Stoppen bringen und entdecke das Hemd, das gestern noch den ganzen Tag mein Handy beherbergte.
Die Tastprobe   ergibt, dass ich am falschen Ort suche. Schnell das peinliche Fach schließen, bevor ich die Kontrolle über die Lawine verliere.

Es folgt die Blindsuche im Hauptfach des Koffers.
Die Erlösung: Ich ertaste das „Commander Etui“ meines Handys und ziehe es heraus zwischen Handtuch, Kulturtasche und der ungebrauchten Ersatzjeans.
Gott sei Dank!
Ich schließe die Reißverschlüsse gerade rechtzeitig bevor der Zug am Südkreuz hält.
8 Minuten später sitze ich im ICE nach Hamburg.
Ich fühle mein Handy in der Brusttasche.
Es ist Zeit für eine SMS an Lena. Ich schreibe, dass alles geklappt habe und sie sich keine Sorgen machen müsse. Dann eine SMS an Drea mit meinen Reisedaten. Gert kann ich eben noch schreiben, dass ich ab Montag wieder zur Verfügung stehe. Ulla kann ich schreiben, wenn ich weiß, wann ich wo abgeholt werden kann. Axel, mit dem ich gerade zwei Tage in Warschau war, fragt über SMS, ob ich schon wieder zu Hause sei und ihm schnell einmal zwei Texte schicken könne.
Ich blicke um mich. Meine Mitreisenden sind alle mit ihren Handys und Laptops beschäftigt. Den Sitznachbarn auf der anderen Seite muss ich zweimal fragen, wie er es geschafft habe, seinen Tisch so weit auszuklappen. Er schreibt auf dem Laptop und hört über Ohrstöpsel Musik vom Handy.

Was habe ich gelernt in der letzten halben Stunde?

Von wegen, dass ich auf Handy verzichten kann. Die wenigen soeben verstrichenen Minuten haben mich eines Besseren belehrt: Ich bin vielleicht nicht handysüchtig. Ohne Handy geht es aber anscheinend auch bei mir nicht.

Ob die alte Frau in der S-Bahn, die mit dem Kopftuch, ob die vielleicht doch ein Handy hat?