Dienstag, 20. Dezember 2016

Eenoog - eine Pferdegeschichte



Ich weiß noch genau, wie Alex zu uns auf den Hof kam. Damals war ich fünf oder vielleicht sechs Jahre und, obwohl Alex nur zwei Tage Mitglied unserer kleinen Hofgemeinschaft war, kann ich mich heute noch an viele Einzelheiten erinnern.
Es muss Herbst gewesen sein. Ich kann es nicht genau sagen, aber im Herbst wurden die Rüben geerntet. Ziemlich spät sogar im Herbst, ich habe ein Bild vor Augen von langen Reihen gezogener Rüben, deren Blätter von Raureif überzogen waren. Ja, und Alex kam mitten in der Rübenernte zu uns. Ich war allein auf dem Hof, kam vielleicht gerade von Heinzi, meinem Spielkameraden von gegenüber.  Das goldbraune Lindenlaub mit den Füßen vor mich her schiebend vernahm ich von der Dorfstraße das Geräusch eines Autos begleitet von dem Hufgeklapper eines trabenden Pferdes.
Ein Auto in unserem Dorf?
 Damals, 1954 oder 1955 gab es nur zwei Autos, die gelegentlich durchs Dorf fuhren. Tamme Metjes, der Viehhändler und Schlachter aus Neumünster und unser alter, weißhaariger Hausarzt Dr. Cornils, auch aus Neumünster.  Sofort wandte ich meine Aufmerksamkeit von den Laubhaufen in der Lindenallee ab und blickte in Richtung Dorfstraße.


Eine Seltenheit in jenen Tagen. Ein Mercedes wie ihn Tamme Metjes, unser Viehhändler, fuhr.

Das Geräusch von Motor und Hufen wurde lauter und dann fuhr der schwarze Mercedes von Tamme Metjes  nicht nur in mein Blickfeld: Er bog sogar in die Lindenallee ein, die unseren Hof mit der Dorfstraße verband.  Der Mercedes auf unserem Hof allein war schon sensationell. Das Hufgeklapper kam von einem aus meinem damaligen Empfinden riesigen braunen Pferd, das Tamme Metjes einhändig lenkend  mit der  linken Hand bei ausgestrecktem Arm durch das geöffnete  Seitenfenster neben dem fahrenden Auto in leichtem Trab mit sich führte. Genau neben mir blieb das ungewöhnliche Gespann stehen. Gerade an der Brust des Braunen vorbei konnte ich Tamme Metjes sehen. Ich kannte ihn und sein Auto von früheren Besuchen. Das Pferd war neu für mich und rief trotz allen Respektes wegen seiner Größe Neugier hervor. Vielleicht hatten Bauernsöhne in jener Zeit das gleiche Kribbeln im Bauch, das heute Bauernsöhne verspüren, wenn sie neben den riesigen Hinterrädern eines  Fendt 700 Vario mit 240 PS stehen.

„Is dien Vadder tau Huus, Jung?“
„Weiß nich, vielleicht im Stall.“
„Machs mool kieken? Sech em mool, dat Tamme Metjes mit dat neege Peer dor is.“
Ich fand ihn im Kuhstall  beim Ausmisten.
„Kanns mal kommen. Tamme Metjes is da und ich soll dir sagen, dass das neue Pferd da ist.“
„Jung, was hast du da bloß verstanden. Neues Pferd? Wir kriegen kein neues Pferd.“
Während er sprach stellte er die Schaufel neben die Mistgabel, die bereits an der Stallwand lehnte. Langsam humpelte er  mit seinem steifen Bein den Mistgang runter raus auf den Hof und ich hinterher.
 Es interessierte mich schon, warum er nichts von unserem neuen Pferd wusste.
Tamme Metjes war inzwischen ausgestiegen und lehnte, das Pferd am Halfter haltend, an seinem immer noch laufenden Mercedes.
„Dach Kueert (Kurt), ick heb di dien neeget Peer mitbröcht.“
„Dach Tamme. Ick har keen Peer köfft un ick will ook keen Peer köpen.  Ick heb all dree Arbeidspeer un de olle Else. Dat langt.“
Else, unsere alte Holsteiner Stute, konnte höchstens noch den einachsigen Milchhänger ziehen, und auch das war ihr manchmal schon zu schwer. Sie war aber das erste Pferd meiner Eltern, als sie den Hof übernahmen, und nun erhielt sie für jahrlange treue Dienste ihr Gnadenbrot auf dem Hermannshof.
„Weet ick doch woll, Kueert, oober passen de hei  good tau diene annern dree Brunen.“
„Mach woll ween. Oober schasst se man ook all satt kreegen.“
„An Goorlanner Wech weern diene Lüe an Rööbenföhrn. Hebb doch sehn, as wie dat eene Peer sick afmaddelt het mit den swoorn Kastenwogen. De kann woll gau noch´n  Kollech bruken. Dann kanns du mit twee Woogen tweespännich föhrn. Ankieken kanns em  jo. Köst jo noch nix.“

 
Kurt Petersen wäre kein echter Bauer gewesen, wenn er sich das Pferd nicht aus nächster Nähe angesehen hätte. Er nahm Tamme den Strick aus der Hand und führte den Wallach im weiten Kreis auf dem Hof herum. Irgendwie hatte der Pferdehändler schon Recht. Der Braune war stark gebaut und machte eine gute Figur. Würde wirklich gut zu den drei anderen passen. Und das Argument, dass die Ernte  bei zwei zweispännigen Fuhrwerken schneller drin wäre überzeugte ebenso wie der Gedanke an die Feldbestellung. Wie er später häufiger erzählte, hatte er sich heimlich schon vorgenommen, in den Handel einzusteigen. Gerade wieder zurück bei Tamme Metjes  wollte er sich den Braunen, der vom Pferdehändler „Alex“ genannt wurde, noch einmal von der anderen Seite ansehen. Tamme übernahm seinen Alex wieder.
Über das längere Bein humpelnd  umkreiste mein Vater Alex. Mit seinem einen Auge -  das andere hatte er irgendwo vor El Alamein in der libyschen Wüste verloren -  inspizierte er Muskeln und Rückenlinie des Pferdes als er abrupt stehen blieb. Er sah zum ersten Mal Alex Kopf von dieser Seite.
„Ne, Tamme, denn kann ick nich bruken.“
„Worüm nich?“
„De het jo nur een Oog. Ne ´n Eenoog will ick nich hem!“
„Wat is denn so slecht an Eenoog? Kueert du hest doch ook bloots een Oog.“
Vater tat so, als hätte er es nicht gehört.
„Ne, Tamme , `n  Eenoog kann ick nich bruken. Nimm em  weller mit no Huus.“
„Wat hest du gegen Eenoog? Du spannst em mit dat eene Oog no de Strootensiet in. Op de anner Siet, de Siet, wo keen Oog is, door is ook nix tau kieken. Dor löpt sien Kollech, den hei bald in-  un utwennich kennt. Denn brukt hei nich antaukieken.“
„Hest jo recht, Tamme, oober hei is man´n  Eenoog.“
„Nu vertell ick di wat, Kueert, wat hei op´n Hinwech nich süht, dat süht hei op´n  Trüchwech!“
Und dann, nach kurzer Pause, fuhr er fort:
 „Du behölls Alex hier un probeers em ut. Wenn dat nich geiht mit jau, kummt hei furts weller trüch no mi.“

Das  war ein faires Angebot. Über Geld war noch kein Wort gefallen und, weil der Vorschlag für meinen Vater völlig ohne Risiko war, nahm er das Angebot von Tamme Metjes an. Der Viehhändler wuchtete seinen mächtigen graubekittelten Körper  hinter das Lenkrad, drehte eine Runde um sein Pferd, tippte im Vorbeifahren an die breite Krempe seines grauen Filzhutes und verschwand auf die Dorfstraße. Mehrere Dorfkinder, angelockt durch das Auto, beobachteten aus sicherer Distanz vom Milchbock aus, was sich auf dem Hermannshof tat. Mit Sicherheit wusste halb Groß Kummerfeld bereits zum Abendessen, dass Kurt Petersen ein neues Pferd hat.
Alex´ zwei Tage in der Hofgemeinschaft   des Hermannshofes   begannen völlig unspektakulär und problemlos.



Alex, ein schöner Brauner, wie dieser. Das fehlende Auge, wenn eines fehlt, muss auf der anderen Seite sein.

Am nächsten Tag wurde Alex eingespannt. An seiner  Seite ein bewährtes und zuverlässiges älteres Pferd. Mein Vater übernahm das zweite Gespann mit dem „Neuen“. Er hatte den Rat des Viehhändlers befolgt und das Pferd mit dem einen Auge zur Straßenmitte eingespannt. Nachbarn, die zufällig  mitbekamen wie die zwei Ackerwagen zweispännig über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße rumpelten, glaubten nun endgültig, dass da ein neues Pferd auf dem Hermannshof ist.  Am Gadelander Weg lag der Rübenacker. In den Tagen zuvor hatten Männer und Frauen bereits die Steckrüben aus der sandigen Geesterde gezogen, in gerader Reihe mit dem Rübenblatt in eine Richtung abgelegt, um dann im nächsten Arbeitsschritt mit geschärften Spaten das Kraut von der Frucht zu trennen.  Heute nun fuhr das erste Gespann  durch die Reihen. Von zwei Seiten stakten die Erntehelfer die Rübenblätter auf den Wagen. Sie sollten in den nächsten Tagen eine hochwertige Ergänzung des Futters für die Milchkühe bilden. Der zweite Wagen, mit meinem Vater auf dem Bock, wurde mit den geköpften Rüben beladen.
Zur Kaffeepause ließen sich alle Arbeiternnen und Arbeiter auf den mitgebrachten Strohklappen nieder und verzehrten ihre Butterbrote aus den damals üblichen nierenförmigen Aluminium Brotdosen.

Ackerwagen zweispännig bei der Rübenernte

Nach der Pause ging die Arbeit weiter. Der Rübenwagen war halbgefüllt. Geduldig warteten die Pferde die Frühstückspause ab. Sie dachten nicht im Traum daran, die schweren Wagen ohne Kommando zu ziehen. Alex schien für sich einen folgenschweren Entschluss gefasst zu haben. Als mein Vater den schon recht schweren Ackerwagen um eine Wagenlänge vorfahren wollte, geschah das für alle Unfassbare. Alex legt sich in vollem Geschirr hin, reißt seinen Macker fast noch mit zu Boden. Durch nichts ließ er sich zum Aufstehen bewegen. Selbst der alte Dobbertien, im Weltkrieg I schon bei der Kavallerie gedient und vor dem Weltkrieg II auf fürstlichen Gestüten gearbeitet, konnte Alex  umstimmen. Dobbertien, der einzige, der mit dem Fahrrad zum Feld gekommen war, wurde zu Frau Munck in unsere Poststelle geschickt. Dort gab es seinerzeit das einzige Telefon im Dorf. Tamme Metjes wollte nicht glauben, was er hörte, und versprach sofort zu kommen. Dobbertien war noch nicht lange zurück, als der schwarze Mercedes in die Feldzufahrt einbog. Der korpulente Pferdehändler stolperte durch die Rübenreihen zum Gespann. Alex lag immer noch so, wie er sich nach der Frühstückspause hingelegt hatte. Auch Tamme Metjes konnte seinen Alex nicht auf die Beine bringen. Weder Peitschenhiebe noch grobes Gezerre am Halfter waren erfolgreich.
„Wenn du dat nich anners willst, is dat eben so“, sagte Tamme zum Pferd und den umstehenden Männern rief er zu: „Utspannen!“
Alex wähnte sich am Ziel seiner Wünsche. Die Menschen hatten allem Anschein begriffen, dass mit ihm diese Schinderei auf dem Rübenacker nicht zu machen sei. Kaum aus dem Geschirr stand er auf, schüttelte sich und guckte die herumstehenden Männer mit seinem einen Auge an, als wollte er sagen: „Seht nur, so geht es! Man darf sich eben nicht alles gefallen lassen!“
„Und nu?“ fragt mein Vater.
„Wat woll, warst schon wies, wat nu passeert.“
Wortlos nahm er Alex mit zum Auto und, was nun geschah, kannte ich schon. Tamme Metjes entschwand mit Alex in Richtung Gadeland so, wie er tags zuvor auf den Hof gefahren kam: Eine Hand am Steuer, die andere führte das Pferd.

Aufmerksame Dorfbewohner, die die Hermannshof Gespanne noch nicht auf dem Hinweg gesehen hatten, glaubten den Gerüchten, dass Kurt Petersen nun zweimal zweispännig fährt, nicht mehr. Schließlich hatten sie ja mit eigenen Augen gesehen, dass ein Wagen mit zwei Pferden und ein Wagen mit einem Pferd zum Hof zurückfuhren.
„Und“, fragte ich meinen Vater auf der Rückfahrt, „was passiert jetzt mit Alex?“
„Weiß ich nicht und ist mir eigentlich auch scheißegal!“
Er war nicht allzu gut gelaunt. Ich habe es an seiner Sprache gemerkt. So sprach er sonst nie mit mir.

Am nächsten Tag, ich studierte gerade eine Zirkusnummer auf einem Rohrsegment des Heugebläses ein und hatte mich schon einige Meter auf dem rollenden Rohrstück fortbewegt, als der Mercedes von Tamme Metjes auf den Hof fuhr. Ich runter vom Rohr. Hoffentlich sagt er meinem Vater nicht, dass ich mit dem Rohr über den Hof gerollt bin.
Tamme hält neben mir und kurbelt die Scheibe runter.
„Dach mien Jung. Is dien Vadder dor?“
„Nee!“
Hätte er doch eigentlich wissen müssen. Sonst wäre ich doch niemals mit dem  kurzen Rohrende auf dem Hof unterwegs gewesen.
Dann reichte er mir ein rosafarbenes Paket durch das Fenster.
„Bring dat man rin un, wenn dien Öllern froogt, wat das is, dann sechst du: Dat is´n  Gruß vun Alex.“

Das Auto rollt vom Hof und ich stehe fast genau an der Stelle, wo ich vor zwei Tagen „dat Eenoog“ Alex zum ersten Mal gesehen habe. Ich blicke auf das rosa Paket, den Gruß von Alex, und auf einen Schlag weiß ich, dass Alex mit dem einen Auge nie wieder einen schweren Wagen ziehen muss.

Samstag, 10. Dezember 2016

Riga - und wovon wir nichts gewusst haben



Der Fall des Eisernen Vorhangs hat es möglich gemacht. Erst Litauen und die Kurische Nehrung, dann Estland mit seiner wunderschönen Hauptstadt Tallin und nun war Lettland dran. Stück für Stück, Jahr für Jahr erschlossen wir uns die Schönheit der Baltischen Staaten.
Lettland, Oktober 2006. Nicht gerade die schönste Zeit zum Reisen, nicht nach Osten dem Winter entgegen. Es war regnerisch, stürmisch, die letzten Blätter warteten darauf auf den Boden zu fallen und nur selten bahnten sich Sonnenstrahlen durch den grauen Himmel.
Wir wohnten draußen in der Vorstadt, das  wirklich schöne Hotel lag mitten in einem hässlichen Gewerbegebiet. Der Weg von der Straßenbahnstation war dunkel und nie wusste man, ob der Fußweg nur unter einer dünnen Wasserschicht lag oder ob sich unter der Wasserfläche ein tiefes Loch befand.
Schon von Deutschland hatten wir uns Leihfahrräder organisiert, weil wir in anderen Städten erlebt haben, wie schön es ist sich die Stadt mit dem Fahrrad zu erschließen. So sollte es auch in Riga sein. Aber hier war alles anders.
In der ganzen Stadt gab es nur zwei Fahrradverleihe. Das hat einen guten Grund: Riga ist damals absolut keine Fahrradstadt gewesen. Keine Radwege, hohe Bordsteine, Schlaglöcher unter Pfützen, Spritzwasser von vorbeifahrenden Autos und die ständige, uns vom Verleiher implantierte Angst vor Fahrraddieben.


Sehenswürdigkeiten in Riga

Trotz aller Erschwernisse haben uns die Fahrräder ganz gut geholfen die Sehenswürdigkeiten der Stadt schnell zu erreichen. Wir haben alles gesehen, was uns der Reiseführer empfahl. Die großen Kirchen, Museen, Parks, ganze Viertel mit herrlichen Jugendstilfassaden und enge Altstadtgassen.

Für unseren letzten Tag hatten  wir uns vorgenommen, ein Freilichtmuseum am östlichen Rand Rigas zu besuchen. Häuser und Höfe aus ganz Lettland sollten hier in äußerst reizvolle Landschaft zwischen mehreren Seen wieder aufgebaut und zu besichtigen sein. Das Museum lag vielleicht 7 oder 8 Kilometer von unserem Quartier entfernt. Das Wetter novembergrau im Oktober aber es blieb trocken. 
Also Fahrrad!
Wir radelten mit unseren Mountain Bikes auf Rigas Ausfallstraßen in Richtung Osten. In einer scharfen Linkskurve hielt ich zum Kartenstudium an. Links Plattenbauten und im Hintergrund die Türme der Kirchen in der Altstadt. Rechts von mir Wald. Nach meinem Übersichtsplan schien es kein Risiko zu sein, durch den Wald abzukürzen. Selbst, wenn wir die Richtung etwas verfehlt hätten, hätten wir irgendwann an ein Seeufer kommen müssen, dessen Ufer wir dann nur in nördliche Richtung hätten folgen brauchen. Wir nahmen die Abkürzung und bald umgab uns die Stille eines Waldes mit dem Geruch nassen Laubes in feuchtnebliger Herbstluft. Kein Verkehrslärm, keine Menschen! Stille und das Gefühl,  allein auf der Welt zu sein. Es wurde etwas hügeliger. Von hinten nähern sich plötzlich zwei junge Männer auf  geländegängigen Fahrrädern. Sie fahren den Hügel schneller aufwärts, als wir ihn bergab fahren würden.



                                      
 






 Stele mit Davidstern



                                    





Eines der mit Bordsteinen eingefassten Massengräber

                               
Ich nehme Anlauf um die nächste Hügelkuppe  etwas leichter zu bezwingen. Der Abstand zwischen uns vergrößert sich. Oben angekommen halte ich um zu warten. Ein Fuß steht auf einer Steinkante. Während ich auf Ulla warte fällt mein Blick auf eine Granit Stele mit einem Davidstern. Noch über den Sinn nachdenkend folgt mein Blick der Steinkante, auf der mein rechter Fuß ruhte. Die Kante knickte etwa nach fünf Metern im rechten Winkel am Ende des kleinen Hügels, den sie einfasste, nach rechts ab. Weiter links sehe ich einen weiteren Hügel mit Einfassung und Stele. Wir fahren einige hundert Meter weiter. Überall kleine Hügel und wir treffen die Mountainbiker wieder, die uns überholt hatten. Sie hatten hier ihre Crossstrecke über Steilhänge. Die kleinen, eingefassten Hügel dienten teilweise als Sprungschanze.

Ulla hielt neben mir und fragte, ob etwas mit mir sei.
„Kannst du mal antworten?!“
Ich konnte nicht - erst einmal nicht.
Mir war ganz plötzlich klar geworden, dass wir inmitten des Stadtwaldes von Riga waren, in dem für Tausende Juden, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer nach Transport-  und  Lagertortur das Leben endete. Ermordet von deutscher Polizei und deutschen Wehrmachtsangehörigen. Lettische SS Einheiten dienten als Helfer bei diesem Morden, vielleicht gezwungen vielleicht  aus Sadismus, Antisemitismus oder auch Opportunismus den Besatzern gegenüber. 
Was für ein tausendfaches,  grausames Verbrechen hatte hier auf dem Boden, auf dem wir nun standen, in den Jahren 1941-1944 stattgefunden!
Während wir noch brauchten um zu begreifen rasten die Mountainbiker durch und über die Massengräber.


Mountainbiker nutzten das durch die Massengräber hügelige Gelände Profil als Crossstrecke.

Das Museum lag sehr schön entlang des Seeufers. Man musste bis hierher die Schüsse der Erschießungskommandos gehört haben. Die Gräber lagen nicht weiter als zwei oder drei Kilometer entfernt.
Wir waren wohl die einzigen Gäste im Museum und wurden vom Personal herzlich aufgenommen und in einem der Häuser mit heißem Tee bewirtet. Mindestens zwei unserer Gastgeberinnen waren so alt, dass sie die Besatzungszeit als Kinder oder Jugendliche miterlebt haben.
 Ich dachte an die Gräber.

Wir fuhren zurück in die Stadt. Diesmal nicht durch den Wald. Die Straße führte über eine Brücke, die viele Geleise überspannte. Sie führten zum Hauptbahnhof in die Stadt.
Sind die, deren Gräber wir gefunden hatten, über diese Geleise dem Tod entgegengerollt?
Ich sah die Viehwaggons vor mir, vollgestopft mit Menschen, die eine qualvolle mehrtägige Reise durch ganz Europa hinter sich hatten.

Im Hotel legte ich mich aufs Bett und blätterte durch den Reiseführer auf der Suche nach Hinweisen auf die Gräber im Wald. Ich fand nichts. Auch in den Stadtplänen war die Stätte des Grauens nicht ausgewiesen.

Am Folgetag flogen wir zurück nach Berlin. In Zehlendorf hatten wir bei Ullas Schwester unser Auto abgestellt. Von Berlin Schönefeld ging es mit S und U-Bahn bis zur Station Onkel Toms Hütte. Wir zogen unsere Rollkoffer durch das Herbstlaub über die Riemeisterstraße in Richtung Sophie-Charlotte Straße. Ich ging hinter den beiden Schwestern. Der Koffer mit seinen kleinen Rollen schob das Laub zusammen bis es so viel wurde, dass es seitlich weggedrückt wurde. Ich guckte mir das Spiel, das der Koffer mit dem Laub trieb, an bis plötzlich ein kleines metallenes Dreieck unter dem Laub zu sehen war. Ich schob das Laub mit dem Fuß beiseite und erkannte zwei Stolpersteine aus Messing eingelassen im Bürgersteig vor der Hausnummer  78 in der Riemeisterstraße. Ich erkannte die Stolpersteine sofort, sie waren mir schon anderorts begegnet. In der Oberfläche las ich die Inschriften:

Hier wohnte Gertrud Prager geb, Friedländer, JG 1882, deportiert nach Riga, ermordet 1942.
Hier wohnte Eugen Prager, JG 1876, deportiert nach Riga, ermordet 1942.

                          

Stolpersteine, die in der Riemeisterstraße vor dem Haus Nr.78 im Bürgersteig eingelassen sind. Sie sollen an das Schicksal des Ehepaares Prager, das vor der Deportation hier lebte, erinnern.

War es Zufall oder Schicksal? Merkwürdig war es zumindest.
Tags zuvor befanden wir uns am Ort des Grauens und einen Tag später, aber einige hundert Kilometer weiter westlich stehe ich vor dem Haus des Ehepaares Prager, das dort im Wald von Biķernieki, am Stadtrand von Riga 1942 ermordet wurde.

Rechercheergebnisse nach der Reise:
Wir waren durch Zufall in den Wald von Biķernieki geraten. Hier hatten in der Zeit von 1941-1944 die Erschießungen von 35.000 – 46.500 Menschen stattgefunden. Unter ihnen nachweislich ca. 20.000 Juden aus Lettland, Deutschland, Österreich und Tschechien sowie ca. 10.000 Kriegsgefangene und 5.000 Widerstandskämpfer. Die Erschießungskommandos wurden zu einem großen Teil aus der lettischen SS zusammengestellt. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass der junge lettische Staat diese Dunkelseite seiner Geschichte am liebsten ausgeblendet hat. Das erklärt, warum es keine Hinweisschilder, keine Einträge in Stadtplänen und keine Erwähnung in unserem Reiseführer gab. Wir sind nur knapp 200 Meter an der 2001 mit Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der finanziellen Hilfe einiger großer deutscher Wirtschaftsunternehmen errichteten Gedenkstätte vorbeigeradelt. Wir hätten die Gedenkstätte gerne besucht, hätten wir von ihrer Existenz gewusst. 2006 war die lettische Gesellschaft noch nicht so weit,  angemessen und offen mit den schrecklichen Ereignissen im Wald von Biķernieki umzugehen. Vielleicht wussten die jungen Biker nicht einmal, dass sie ihre hügelige Rennstrecke nicht nur der kieferbestandenen Binnendünen Landschaft zu verdanken hatten. Wäre es anders, könnte ich es nicht verstehen, dass man Gertrud und Eugen Prager und all den vielen anderen Tausenden Toten hier im Wald von Biķernieki nicht den nötigen Respekt erweist.
Zu meiner Freude konnte ich nun 10 Jahre nach meinem Rigabesuch feststellen, dass das heutige Lettland das tausendfache Sterben in und um Riga nicht mehr aus der eigenen Geschichte ausblendet.